Daniel Glattauer – „In einem Zug“

Freitag, 31. Januar 2025

 (DuMont, 208 S., HC)
Daniel Glattauer, 1960 in Wien geboren, begann seine Karriere nach dem Abschluss seines Pädagogik- und Kunstgeschichte-Studiums bei „Die Presse“ und als Autor von Kolumnen, Gerichtsreportagen und Feuilletons bei der Tageszeitung „Der Standard“, ehe 1997 mit „Theo und der Rest der Welt“ sein erster Roman veröffentlicht wurde und gesammelte Kolumnen in verschiedenen Bänden zusammengefasst wurden. Hierzulande wurde Glattauer mit dem 2006 veröffentlichten Roman „Gut gegen Nordwind“, ein E-Mail-Roman, der 2019 mit Nora Tschirner und Alexander Fehling in den Hauptrollen verfilmt wurde. Nun stellt Glattauer sein neues Buch „In einem Zug“ vor, mehr Novelle als Roman.
Der Schriftsteller Eduard Brünhofer ist zu einem – wahrscheinlich - unangenehmen Termin mit seinem Verlag in München unterwegs. Der erfolgreiche Autor von Liebesromanen hat seit dreizehn Jahren nämlich nichts mehr veröffentlicht, was den Verlag offensichtlich beunruhigt. Doch bevor Brünhofer zu sehr ins Grübeln gerät, als er den Zug in Wien besteigt und sich in ein Abteil setzt, in dem ihm diagonal gegenüber am Fenster bereits eine Frau frühen mittleren Alters. Wie er selbst ist sie weder mit Lesen noch mit Hören oder Schlafen beschäftigt, aber natürlich taxiert man sich gegenseitig, wobei sich der Schriftsteller bereits fragt, wie eine Gesprächseröffnung zwischen ihnen aussehen könnte. Ob er wohl erkannt worden ist? Entsprechend überrascht reagiert er, als die Frau ihn mit ihrem alten Englischlehrer verwechselt hat. Interessant wird es, als sich die beiden einander vorstellen, er als DER Eduard Brünhofer, sie als Physio- und Psychotherapeutin Catrin Meyr, die ebenfalls nach München unterwegs ist. Also viel Zeit zum Unterhalten. Nach den üblichen Einstiegsfragen („Wie wird man so sein erfolgreicher Schriftsteller wie Sie?“) geht es schnell ins Eingemachte, denn die Therapeutin erweist sich mit ihren Fragen als sehr hartnäckig, hakt immer wieder nach und bringt den seit Jahren in seiner Profession untätigen Schriftsteller in Bedrängnis, als es um das große Thema Liebe geht. Da prallen nämlich zwei Welten aufeinander. Während Catrin zu ihrem verheirateten Teilzeit-Geliebten unterwegs ist und bekennt, für Langzeitbeziehungen nicht gemacht zu sein, schwärmt Eduard von seiner langjährigen Ehe mit Gina, eigentlich Regina, aus der eine mittlerweile erwachsene Tochter namens Tanja hervorgegangen ist. Schließlich will Catrin aus erster Hand das Erfolgsrezept einer glücklichen Langzeitbeziehung erfahren, was Eduard zwingt, darüber zu sinnieren, was er an Gina besonders schätzt…

„Die Liebe, die ich lebe, ist anderer Natur. Es ist meine private Liebe, die gehört mir, die verträgt sich nicht mit den Illusionen und Sehnsüchten eines ewig nach Gefühlsräuschen heischenden Lesepublikums. Ich liebe Gina, wenn ich sehe, mit welcher Hingabe sie unsere Fensterauslagen dekoriert. Ich liebe Tanja, wenn ich beobachte, wie sie ihre Alpakas streichelt und ihnen ihre Geheimnisse zuflüstert. Das ist meine Leidenschaft. Das ist meine Liebe. Die lebt in meinem Alltag. Die findet keinen Platz in einem Buch.“

Bereits mit seinem Erfolgsroman „Gut gegen Nordwind“ hat Daniel Glattauer bewiesen, dass er der Art, Liebesromane zu schreiben, neue Formen der Narration abgewinnen kann, indem er die beiden Protagonisten ihre Liebe durch einen anregenden E-Mail-Verkehr entwickeln lässt. Für seinen neuen Roman mit dem doppeldeutigen Titel „In einem Zug“ beschränkt Glattauer das Setting nahezu auf ein Zugabteil, so dass der Kurzroman gut als Zwei-Personen-Stück auf einer Bühne aufgeführt werden könnte. Aus diesem interessanten Setting heraus entwickelt sich ein zunächst spannendes Geplänkel über das Wesen des Schreibens und vor allem über die Liebe. Bei einigen Mini-Fläschchen Rotwein aus dem Zug-Bistro fallen einige Schranken, aber nicht alle Hemmungen. Eduard und Catrin kommen sich nur intellektuell näher. Ungewöhnliche Weisheiten über die Liebe bekommt die Leserschaft allerdings nicht geboten. „In einem Zug“ scheint eher dazu zu dienen, Glattauer durch sein Alter ego Eduard mit einer Mischung aus Selbstironie und Eitelkeit von dem Leben eines Romanschriftstellers zu erzählen, wobei er sich mal sprachlich gewitzt, mal selbstgefällig und profan gibt. Die gut 200 Seiten lesen sich allerdings wie in einem Zug, auch wenn das konstruierte Ende einen schalen Nachgeschmack hinterlässt.


Heinz Strunk – „Fleisch ist mein Gemüse. Eine Landjugend mit Musik“

(Rowohlt, 256 S., Tb.)
Eigentlich heißt er ja Mathias Halfpape, der Heinz, aber seit seiner 1992 veröffentlichten Tonträger-Produktion „Spaß mit Heinz“ hat sich der in (Bad) Bevensen geborene und bei Harburg aufgewachsene Musiker und Autor das Pseudonym Heinz Strunk zugelegt, das er bis heute nicht mehr ablegen sollte. Mittlerweile hat Strunk etliche Solo-CDs, CDs mit Studio Braun, Fraktus und Künstlern wie Stephan Remmler, Revolverheld und Yasmin K. produziert, als Schauspieler und Drehbuchautor gearbeitet sowie Romane und Erzählungen veröffentlicht. Seinen literarischen Durchbruch feierte Strunk mit seinem 2004 veröffentlichten Debütroman „Fleisch ist mein Gemüse“, mit dem Strunk seine Zeit als Musiker in einer Unterhaltungskapelle verarbeitete.
1985. Der dreiundzwanzigjährige Heinz Strunk leidet seit elf Jahren unter der schlimmsten Form der Akne und lebt noch bei seiner Mutter, als er eines Augustnachmittags einen Anruf seines entfernten Bekannten Jörg bekommt, der in Lüneburg das kleine Musikgeschäft Ohrenschmaus unterhält und ihm einen Job als Saxofonist bei der Tanzband Tiffanys vermittelt. Die sucht für ein Schützenfest in Moorwerder noch einen fünften Mann, am liebsten mit Saxofon, wie Heinz von Bandleader Gundolf „Gurki“ Beckmann erfährt. Immerhin winken sechshundert Mark für zwei Tage. Heinz, der von seinen Musikerkollegen schnell „Heinzer“ genannt wird, bewährt sich und hofft, nach seiner eineinhalbjährigen Bundeswehrzeit endlich eine Karriere als Vollzeitmusiker im Pop-Business einschlagen zu können, auch wenn die Neue Deutsche Welle bereits in ihren letzten Zügen lag. Doch mit seinen Kollegen Norbert, Torsten, Jens und Gurki heißt es erst einmal, Schützenfeste, Feuerwehrbälle und Hochzeiten zu bespielen. Immerhin gibt es kostenloses Essen und Trinken, aber in Sachen Frauen tut sich leider absolut gar nichts. Als sich seine psychisch kranke Mutter aus dem Fenster stürzt und in die Geriatrie verlegt wird, muss Heinzer nicht nur allein in dem Harburger Reihenhaus klarkommen, sondern verfällt zusehends dem Alkohol und dem Automatenglücksspiel.
Nur so lässt sich Heinzers andauernder Frust über knappe Kassen, sinnentleerte Schlagertexte, besoffenes Publikum und mangelnden Gelegenheiten zum Kennenlernen von Frauen überhaupt aushalten. Trotz aller – wenn auch halbherziger - Bemühungen wie ein Musiklehrerjob in der Musikschule schafft es Heinzer auch nach zehn Jahren nicht, seinen Status quo wesentlich zu verbessern…

„Schrott kombiniert mit Schrott ergibt Vollschrott. Egal, ob wir zur Polyesterthermohose das Eiersweatshirt trugen, die bulgarische Karottenbundfaltenhose mit Drogeriesocken akzentuierten oder den elektrostatisch stark aufgeladenen Vollacrylunterziehrolli mit der aufgerubbelten Trainingshose zu komplettieren versuchten: Wir blieben Lumpenproletariat. Zeltartige Großraumjeans und essbare Einwegkleidung schlugen die letzte Luke zur Sonnenseite des Lebens endgültig und für immer zu.“ (S. 207)

Als Heinz Strunk auf Anraten seiner damaligen Freundin im Alter von über 40 Jahren sein erstes Buch veröffentlichte, landete er durch seine Vorstellung in Stefan Raabs Sendung „TV total“ gleich einen Bestseller, dem viele weitere – wie zuletzt die ebenfalls verfilmten Romane „Jürgen“ und „Der goldene Handschuh“ – folgen sollten. „Fleisch ist mein Gemüse“ beschreibt auf kurzweilige Weise genau das Leben junger Erwachsener im Tanzkapellen-Geschäft, wie man es sich gemeinhin auf dem Lande vorstellt. 
Ganz ungeniert berichtet Strunk von seiner tatsächlichen schweren Akne-Erkrankung, seinem zunehmend unmotivierten Engagement bei Tiffany’s (die im Roman zu Tiffanys wurden) und den Fehlschlägen hinsichtlich angestrebter Fraueneroberungen, so dass regelmäßig selbst abgemolken oder entsaftet werden musste. Die ausufernden Spiegeleier-Gelage nach den Auftritten sorgten schließlich für genügend Material zur Sperma-Produktion. Strunk gelingt es, das Lebensgefühl in den 1980er Jahren ebenso anschaulich wie amüsant darzustellen, wobei die Auftritte abgehalfteter Stars wie den One-Hit-Wonder-Acts Taco und Gombay Dance Band genüsslich durch den Kakao gezogen werden, während die effektive Professionalität von Klaus & Klaus oder Witzeerzähler Fips Asmussen neidlose Bewunderung erfährt. Natürlich wird sich über Dorftrottel in Gummistiefeln auf Schützenfesten ebenso hergezogen wie über dümmliche Schlagertexte, aber vor allem gefällt „Fleisch ist mein Gemüse“ durch die authentische Darstellung des Alltags Landkapellen-Musikern.

Stephen King – „Das Monstrum. Tommyknockers“

Montag, 27. Januar 2025

(Hoffmann und Campe, 688 S., HC)
Stephen King hatte 1986 mit „Es“ sein Magnum Opus abgeliefert und damit die Messlatte für seine zahlreichen Epigonen, aber für sich selbst ebenfalls sehr hochgelegt. Mit dem zweiten Band seiner „The Dark Tower“-Reihe („Drei“) und dem wunderbar von Rob Reiner mit Kathy Bates und James Caan in den Hauptrollen verfilmten Psycho-Horror-Schocker „Sie“ konnte der „King of Horror“ qualitativ überzeugend nachlegen, aber die produktive Phase (1987 wurden mit „Die Augen des Drachen“, „Sie“, „Drei“ und „Das Monstrum“ gleich vier Romane von ihm veröffentlicht) sowie seine Alkohol- und Kokainsucht zollten schließlich ihren Tribut. Sein Science-Fiction-Horror-Roman „Das Monstrum“ konnte nämlich nicht mehr an die Qualität früherer Werke anknüpfen und wurde zudem 1993 schlecht als Fernseh-Zweiteiler verfilmt.
Die erfolgreiche Western-Roman-Schriftstellerin Bobbi Anderson lebt zurückgezogen mit ihrem altersschwachen und auf einem Auge bereits blinden Beagle Peter im Haus ihres Onkels in Derrys kleinen Nachbarstadt Haven, Maine. Als sie eines Nachmittags im Juni 1988 im angrenzenden Wald an der Route 9 Holz schlagen will, sieht sie das Schimmern von Metall im Boden und fegt den darum liegenden Waldboden beiseite. Während Peter ein langgezogenes Heulen ausstößt, buddelt Bobbi fasziniert weiter, bis sie denkt, ein Auto oder etwas ähnlich Großes vor sich zu haben. Fortan richtet Bobbi ihren Alltag ganz auf das Freilegen des geheimnisvollen Objekts aus. Dabei verändert sie sich nicht nur körperlich – so fallen ihre Blutungen weit heftiger aus als bei Menstruationen üblich, dann fallen ihr auch Zähne aus -, sondern kann auch die Gedanken anderer Menschen lesen. Sie erfindet technische Geräte, die den Ort allmählich unabhängig vom lokalen Stromnetz machen, und schreibt in kürzester Zeit ihren wohl besten Roman.
Währenddessen droht Bobbis Freund und ehemaliger Liebhaber James Gardener als Ersatzgast des New England Poetry Caravan einmal mehr die Kontrolle über sich zu verlieren. Der gescheiterte Dichter und Alkoholiker wird das Gefühl nicht los, dass seine alte Freundin in Gefahr schwebt, und macht sich nach einem peinlichen Auftritt nach einer Lesung auf den Weg zu ihr. Dank der Metallplatte in seinem Schädel ist er gegen die Gedankenleserei, die mittlerweile auch andere Bewohner in Haven auszuüben in der Lage sind, gefeit, aber nicht gegen die Übelkeit und andere Veränderungen, die in der Stadt vor sich gehen. Er hilft Bobbi bei der Ausgrabung des nun offenkundig als UFO identifizierten Objekt und bekommt nur am Rande mit, dass sich die Bewohner von Haven verändern und sich von der Außenwelt abschotten. Als sie endlich die Luke öffnen, steht ihnen allerdings eine böse Überraschung bevor…
„Sie standen nebeneinander und lächelten einander an, und es war beinahe wie früher, aber der Wald war stumm, keine Vögel erfüllten ihn mit ihrem Zwitschern.
Die Liebe ist vorbei, dachte er. Jetzt handelt es sich wieder um dasselbe alte Pokerspiel, aber gestern nacht ist die Zahnfee gekommen, und ich nehme an, sie wird heute nacht wiederkommen. Möglicherweise mit ihrer Kusine und ihrem Schwager. Und wenn sie meine Karten sehen, vielleicht diesen Hauch eines Einfalls wie ein As in der Rückhand, dann ist es aus und vorbei. In gewisser Weise ist es komisch. Wir sind immer davon ausgegangen, dass die Außerirdischen wenigstens noch leben müssten, um eine Invasion durchziehen zu können. Nicht einmal H.G. Wells hat sich eine Invasion von Geistern träumen lassen.“ (S. 466)
An einer Stelle des Romans gibt Stephen King zu, dass kein Science-Fiction-Autor mit einem Funken Selbstachtung über Fliegende Untertassen schreiben würde, dass nur Wirrköpfe und religiöse Exzentriker – und natürlich die Regenbogenpresse – ihnen Platz in ihren Gedanken und Vorstellungen einräumten. Gut fünf Jahre bevor Chris Carter mit „Axte X“ das Gedankenspiel aber erfolgreich auf den Fernsehbildschirm gebracht hat, spielte Stephen King die Möglichkeit einer UFO-Ladung durch und vor allem die Folgen, die dieses Ereignis auf die Bewohner einer Kleinstadt in Maine nach sich ziehen. Nachdem King mit der Schriftstellerin Bobbi Anderson und dem Dichter James Gardener die Hauptfiguren ausführlich vorgestellt hat, führt er in einem Nebenplot einzelne Figuren aus Haven vor, wobei ein verpatzter Zaubertrick, bei dem der kleine Bruder des Möchtegern-Zauberers spurlos verschwindet, eine zentrale Rolle einnimmt. Es fordert der Leserschaft schon einiges an gutem Willen ab, die Vorgänge in Haven und die Natur der aus dem Volksmund bekannten Tommyknockers, denen Stephen King Gestalt zu verleihen versucht, anzunehmen. So mutig und verwegen sein Unterfangen auch gewesen ist, eine UFO-Geschichte zu schreiben, gelingt es King doch nicht, die Verwandlung der Bewohner von Haven und ihren Zusammenschluss per Gedankenübertragung so glaubwürdig zu gestalten, dass echte Spannung aufkommt. Vor allem zum Ende hin, wenn überflüssigerweise Bobbis rechthaberisch-dominante Schwester auch noch mitmischt und Gardener trotz übelster Verletzungen allen feindlichen Angriffen der Haven-Gemeinde strotzt, hat „Das Monstrum“ seinen anfänglichen Reiz eingebüßt.

John Irving – „Zirkuskind“

Montag, 13. Januar 2025

John Irving – „Zirkuskind“ 
(Diogenes, 970 S., Tb.) 
Seit John Irving mit zarten 26 Jahren sein immerhin schon 500 Seiten starkes Romandebüt „Lasst die Bären los!“ veröffentlicht hat, zählt der aus New Hampshire stammende Autor zu den erzählwütigsten Vertretern seiner Zunft. In der Regel dürfen seine Fans alle zwei bis vier Jahre mit einem neuen, gern auch mal 1000 Seiten umfassenden Opus von ihm rechnen. So wartet auch sein achter, 1994 erschienener Roman „A Son of the Circus“ mit eindrucksvollen 970 Seiten auf und entführt die geneigte Leserschaft nach Indien. 
Dr. Farrokh Daruwalla fühlt sich in seiner Heimatstadt Toronto, wo er die meiste Zeit mit seiner Wiener Frau lebt, die er während seines Studiums in der Schweiz kennengelernt hat, nach wie vor wie ein Einwanderer, weshalb es ihn immer wieder nach Bombay zieht, wo er geboren und aufgewachsen ist. Dort verbringt der etwas pummelige, schon in die Jahre gekommene Orthopäde seine Zeit vor allem damit, seinem Hobby zu frönen, nämlich Blutproben von Liliputanern des Great Blue Nile Circus zu sammeln, um ihre Gene zu studieren, was ihm allerdings so gut wie nie gelingt. Erfolgreicher ist er darin, Drehbücher für den von vielen verhassten Schauspieler John D. zu schreiben, dessen „Inspektor Dhar“-Filme stets nach dem gleichen Rezept funktionierten. Doch dann wird es turbulent. 
Mit dem Scholastiker Martin Mills taucht nicht nur überraschend der bislang unbekannte Zwillingsbruder des Schauspielers auf, um in Bombay an einer Schule zu lehren, sondern im traditionellen Duckworth-Goldclub treibt auch ein Mörder sein Unwesen, der mit seiner hinterlassenen Botschaft „Weil Dhar Mitglied im Club ist“ unmissverständlich klar macht, dass das Morden weitergeht, solange der vor allem von den kastrierten Transvestiten-Prostituierten verhasste Schauspieler nicht aus dem Club geworfen wird. 
Daruwallas zwergwüchsiger Chauffeur, der echte Kommissar Patel, das aus Iowa stammende Hippie-Mädchen Nancy und einige skurrilere Figuren wie der Junge mit dem Elefantenfuß, aufreizende Kinderprostituierte und ein Killer, der seinen Opfer Elefanten auf den Bauch malt, runden das Ensemble in dem multisexuellen und -kulturellen Plot ab, in dem der gute Doktor nicht nur den Verlust seines homosexuellen Freundes aus Toronto verkraften muss, sondern sich auch gegen die erotischen Verführungen der HIV-positiven Kinderprostituierten Madhu standhaft bleiben muss. 
„Ihre vorsätzliche Nacktheit war bedrückend, allerdings nicht, weil sie ihn wirklich gereizt hätte, Sex mit ihr zu haben (allein schon der Gedanke) erschien ihm plötzlich als der Inbegriff des Bösen. Er wollte gar keinen Sex mit ihr – er verspürte nur eine ganz flüchtige Begierde -, aber ihre überdeutliche Verfügbarkeit betäubte seine anderen Sinne. Dabei war er sich bewusst, dass sich ein so reines Übel, etwas so eindeutig Verkehrtes, wohl selten so folgenlos darbot. Das war ja gerade das Entsetzliche: Wenn er ihr gestattete, ihn zu verführen, würde das kein negatives Nachspiel haben – außer dass er sich, immer und ewig – daran erinnern und schuldig fühlen würde.“ (S. 759) 
Für „Zirkuskind“ hat John Irving Neuengland verlassen, und obwohl er in seiner Vorbemerkung beteuert, dass der Roman nicht von Indien handele und er Indien nicht kenne, spielt sich doch der Großteil des Romans dort ab, wobei das titelgebende Zirkuskind letztlich nur am Rand eine Rolle spielt. Vielmehr entfaltet Irving vor der berauschenden Kulisse der lauten, von Menschen nur so wimmelnden Metropole ein breites Spektrum an für ihn gewohnten kuriosen Figuren, von denen Dr. Daruwalla das Zentrum der Erzählung bildet, die sich über etliche Nebenhandlungen und Erinnerungen erstreckt und sich nicht recht entscheiden kann, ob sie Krimi, Drama, Kultur- oder Sittengeschichte sein will. 
Es geht um Glauben, sexuelle und kulturelle Identität, Wahrheit und Fiktion, um Familie und Randfiguren der Gesellschaft, natürlich auch um den Mikrokosmos Zirkus. Es hätte sicher gereicht, Daruwallas Geschichte als Zauderer zwischen den Welten und Kulturen zu erzählen und das Gefühl von Heimat und Fremdsein in all seinen Facetten zu thematisieren. 
Warum allerlei sexuelle Aktivitäten, seltsame Morde und Schicksale von Zirkuskindern alles so verworren machen müssen, bleibt mir persönlich ein absolutes Rätsel. 
„Zirkuskind“ ist von allen Irving-Romanen wohl derjenige, den man nicht unbedingt gelesen haben muss. 

Susanna Clarke – „Jonathan Strange & Mr. Norrell“

Sonntag, 29. Dezember 2024

(Bloomsbury Berlin, 1022 S., HC) 
Es gehört schon ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein dazu, einem Verleger einen Erstlingsroman mit über 1000 Seiten zu präsentieren. Aber in magischen Zeiten, die durch die Erfolgsphänomene von Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Romanen und J.R.R. Tolkiens nach wie vor populärem „Herr der Ringe“-Universum geebnet worden sind, vermag ein Roman über die Rivalität zweier englischer Zauberer auch in heutigen Zeiten auf fruchtbaren Boden, also eine interessierte Leserschaft stoßen. Auch wenn Susanna Clarkes Romandebüt „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ vollmundig als „Harry Potter für Erwachsene“ beworben wurde, braucht das Epos keine prominenten Fürsprecher oder wohlmeinende, aber irreführende Vergleiche, um sein Publikum zu überzeugen. 
Einst war England von den Zauberkünsten des „Rabenkönigs“ – wie John Uskglass gewöhnlich genannt wurde - geprägt, doch nach dem Tod des letzten aureatischen Zauberers, Dr. Martin Pale (1485-1567) ist die Zauberei im Königreich nahezu zum Erliegen gekommen. 
Nun, am Anfang des 19. Jahrhunderts, beschäftigen sich nur noch sogenannte Gentleman-Zauberer wie diejenigen in der Gilde von York mit der Geschichte der Zauberei, wenn sie sich bei ihren monatlichen Zusammenkünften ebenso lange wie langweilige Traktate über die Geschichte der englischen Zauberkunst vorlesen. Als die Gilde von York im Herbst 1806 mit John Segundus ein neues Mitglied aufnimmt, stellt er die berechtigte, interessante Frage, warum moderne Magier unfähig seien, die Zaubereien zu vollführen, über die sie schrieben. Nach hitzigen Diskussionen entschließt sich die Gilde, einen Brief an Mr. Norrell zu schreiben, der zurückgezogen in Hurtfew Abbey lebt und bekanntermaßen über die umfangreichste Bibliothek mit Werken zur Zauberei besitzt. Norrell lässt sich darauf ein, seine eigene Zauberkunst in York vorzuführen, und sorgt mit seiner eindrucksvollen Demonstration rund um die örtliche Kathedrale für die Auflösung der Gilde der Zauberer von York. 
Natürlich macht Norrells Wirken die Runde und bleibt auch der Regierung in London nicht verborgen, die im Krieg gegen Napoleon nicht weiterweiß. Als Norrell in London den brillanten jungen Zauberer Jonathan Strange kennenlernt, nimmt er ihn als Schüler auf, doch sehr bald geht Strange seinen eigenen Weg, unterstützt den Duke of Wellington in Spanien erfolgreich gegen die Franzosen. Doch über dem Leben und Wirken der zunehmend einander entfremdeten Zauberer hängt eine düstere Prophezeiung. Vor allem Jonathan Strange macht das zunehmend zu schaffen… 
„Zum ersten Mal wurde er gewahr, wie traurig sein Leben war. Er war umgeben von niederträchtigen Männern und Frauen, die ihn hassten und ihn insgeheim um sein Talent beneideten. Er wusste jetzt, dass jeder zornige Gedanke, den er je gedacht hatte, gerechtfertigt und jeder großzügige Gedanke verfehlt gewesen war. Seine Feinde waren verabscheuungswürdig und seine Freunde waren Verräter. Norrell war (natürlich) am schlimmsten von allen, aber sogar Arabella war schwach und seiner Liebe nicht würdig.“ (S. 474) 
Außerdem ist von einem „namenlosen Sklaven“ die Rede, der laut des Orakelspruchs König in einem fremden Land zu werden verspricht. Hier fühlt sich der schwarze, sehr distinguiert auftretende Dienstbote Stephen Black – ermuntert vom mysteriösen Herrn mit „Haar wie Distelwolle“ - angesprochen. Das imposante Figurenarsenal wird durch den zwielichtigen Childermass, den seherisch begabten Vinculus und die in Venedig weilende Familie Greysteel ergänzt, um nur einige zu nennen. Ermuntert durch den Erfolg, den die Rivalen Strange und Norrell mit ihren Zaubereien haben, beginnen auch andere Zöglinge, von der alten Zauberkunst Gebrauch zu machen… 
Susanna Clarke ist mit „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ ein in jeder Hinsicht imposantes und imponierendes Werk gelungen, das seine Leserschaft bereits mit den ersten Seiten zu verzaubern versteht, wenn sie die Beschäftigungen der „theoretischen“ Zauberer der Gilde von York mit einem leicht ironischen Unterton beschreibt und gleichzeitig mit wissenschaftlich wirkenden Fußnoten, Quellenangaben und ausführlichen Anekdoten faszinierende Metaebenen öffnet. 
Die beiden Titelfiguren nehmen zwar einen Großteil der Geschichte ein, doch die in Nordenglang aufgewachsene und nun in Cambridge lebende Clarke nimmt sich ebenso viel Zeit für das immens große Figurenarsenal rund um die beiden Meister-Zauberer. Das stört zwar immer wieder ein wenig den Lesefluss, doch gelingt es der Autorin, mit sehr bildhaften, fantasiebegabten Beschreibungen sowohl die verschiedenen Charaktere als auch die Handlungsorte lebendig wirken zu lassen. 
Wer Jane Austen und Charles Dickens schätzt und Sinn für sprichwörtlich magische Erzählungen besitzt, wird mit „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ bestens unterhalten. 

Stephen King – „Wahn“

Freitag, 13. Dezember 2024

(Heyne, 896 S., HC) 
Als Stephen King 2008 seinen Roman „Duma Key“ veröffentlichte (der dann in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Wahn“ erschien), blickte er bereits auf mehr als dreißig erfolgreiche Jahre als Schriftsteller zurück, dazu auf prominent verfilmte Bestseller wie „Es“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Shining“, „Christine“, „Dead Zone – Das Attentat“, „The Stand – Das letzte Gefecht“ und „Sie“. Nachdem er 1999 als Spaziergänger von einem Kleinbus erfasst worden war und drei Monate im Gefängnis verbracht hatte, schrieb King seinen Roman „Duddits“ mit der Hand, aber erst in „Der Turm“, dem siebten Band seines Fantasy-Epos „Der Dunkle Turm“, thematisierte er den Unfall ausführlich. Auch in „Wahn“ hallt das Echo dieses traumatischen Erlebnisses deutlich nach. 
Edgar Freemantle hat es in Minnesota als Selfmade-Bauunternehmer zu großem Erfolg gebracht, war im Alter von fünfzig Jahren genauso viele Millionen Dollar schwer und war glücklich mit Pam verheiratet und stolz auf die an der Brown studierenden Tochter Ilse und die in Frankreich als Lehrerin arbeitende Melinda. 
Doch dann stellte ein Unfall Freemantles Leben auf den Kopf: Der Zusammenprall seines Pick-ups mit einem zwölfstöckigen Kran führte nicht nur zu einem Schädel-Hirn-Trauma, sondern auch zum Verlust seines rechten Arms. Die Hirnprellung und die anhaltenden Kopfschmerzen führten zu einer Störung seines Sprachzentrums, zu unkontrollierten Wutanfällen und unerträglichen (Phantom-)Schmerzen, bis Pam die Kraft und den Glauben verliert, die Ehe fortzuführen. 
Freemantles Psychiater Dr. Kamen lässt seinen selbstmordgefährdeten Patienten daran erinnern, dass er früher gern gemalt habe, und schlägt ihm eine Auszeit auf der Insel Duma Key an Floridas Westküste vor. Als Freemantle am 10. November von seiner Reha-„Queen“ Kathi Green zum Flughafen gebracht wird und nach Florida fliegt, ahnt er nicht, dass er in ein Haus zieht, das zuvor schon von verschiedenen Künstler-Größen bewohnt worden ist. Freemantle bekommt mit Jack Cantori einen fleißigen Assistenten und freundet sich mit seinem Nachbarn Wireman an, der sich liebevoll um die 85-jährige, an Alzheimer erkrankte Elizabeth Eastlake kümmert, die nahezu alle Immobilien auf Duma Key ihr Eigen nennt. Freemantle nennt sein neues Heim Big Pink und beginnt nach einiger Zeit tatsächlich mit dem Malen, wofür er offenbar ein großes Talent besitzt. 
Doch die Bilder von Sonnenuntergängen mit Mädchen und Fischerbooten entwickeln ein gefährliches Eigenleben, das bald auch Freemantles Familie bedroht… 
„Was ich malte, wirkte nicht nur deshalb, weil es die Nervenenden reizte; es wirkte, weil die Leute wussten – auf irgendeiner Ebene wussten sie es tatsächlich -, dass sie hier etwas betrachteten, das aus einem Reich jenseits allen Talents stammte. Das Gefühl, das diese Duma-Bilder vermittelten, war Horror, kaum im Zaun gehalten. Horror, der darauf wartete, sich ereignen zu können. Mit verrotteten Segeln einlaufend.“ (S. 376) 
Als Ausgangspunkt für Kings wieder mal episch ausgefallenen Roman „Wahn“ dient ein Unfall, wie ihn Stephen King selbst fast zehn Jahre zuvor erlebt hat, und der im Kopf seines Protagonisten, den er als Ich-Erzähler etabliert, außergewöhnliche künstlerische Prozesse freisetzt. 
King verarbeitet so nicht nur erneut das Trauma seiner eigenen Unfall-Erfahrung, sondern verknüpft sie einmal mehr mit einem seiner Lieblingsthemen, mit dem künstlerischen Schaffensprozess. Welch unangenehme Nebenwirkungen das zeitigen kann, haben bereits Romane wie „Stark – The Dark Half“ und „Shining“ dokumentiert. King nimmt sich viel Zeit, die Geschichte von Edgar Freemantle zu erzählen. Der Rückblick auf sein bisheriges Leben fällt recht kurz aus, dafür nehmen im weiteren Verlauf die Beziehungen zu seiner Ex-Frau Pam und den beiden Töchtern ebenso viel Raum ein wie zu seinem neu gewonnenen Freund Wireman und der geheimnisvollen Elizabeth Eastlake, die einen besonderen Bezug zu den Künstlern in ihrem Leben zu haben scheint. 
Während die eigentliche Handlung in wenigen Sätzen zusammengefasst werden kann, nehmen die sukzessive gewonnenen Einblicke in das Leben von Wireman und seiner Herrin genügend Raum ein, dass sie Kings Leserschaft bald wie Menschen aus Fleisch und Blut erscheinen. Auch die zunehmend bedrückende Atmosphäre auf der Insel und die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Prozess sind King sehr eindringlich gelungen, so dass die Spannung fast greifbar ist. 
Allein das Finale, das zumindest die Horror-Fans erfreuen wird, ist etwas zu dick aufgetragen und umständlich konzipiert worden, doch das schmälert den Genuss von „Wahn“ kaum. 

Michael Connelly – (Harry Bosch: 15) „Der Widersacher“

Samstag, 7. Dezember 2024

(Knaur, 458 S., Tb.) 
Seit 1992 schickt der ehemalige Polizeireporter Michael Connelly seinen unermüdlich und aufrichtig für Gerechtigkeit kämpfenden Detective Harry Bosch auf Verbrecherjagd und ist immer wieder für einige der besten Krimis verantwortlich gewesen, die es sogar ins Serienformat von Amazon Prime geschafft haben. Fast zwanzig Jahre später ist Bosch längst pensioniert, konnte aber seine Dienstzeit verlängern lassen und ist nun der Einheit Offen-Ungelöst des Los Angeles Police Departments zugeteilt. Mit seinem Partner David Chu bekommt er von Lieutenant Duvall den Fall von Lily Price zugewiesen, die 1989 ermordet worden war. Nun konnte eine DNA-Probe dem bereits inhaftierten Sextäter Clayton S. Bell zugeordnet werden, der zum Zeitpunkt des Mordes allerdings erst acht Jahre alt war. 
Wie Bosch und Chu bei einem von der Therapeutin Hannah Stone begleiteten Verhör mit Pell erfahren, war Pells Mutter während seiner Kindheit mit einem Mann namens Chill liiert, der Pell sexuell missbraucht und mit einem Gürtel geschlagen habe. So könnte Pells Blut an Lily Prices Hals gelangt sein. Doch bevor sich Bosch und Chu auf die Suche nach diesem mysteriösen Chill machen können, werden sie zu einem brisanten aktuellen Fall abkommandiert. Niemand Geringerer als Stadtratsmitglied Irvin Irving hat Bosch angefordert, den Tod seines Sohnes George zu untersuchen. 
Als Irving noch Chef der Einheit für interne Untersuchungen beim LAPD war, machte er Bosch immer wieder das Leben schwer, doch hält er Bosch für so integer und vertrauenswürdig, dass er ohne Rücksicht auf die Ergebnisse, zu denen der Detective kommen wird, die Wahrheit herausfinden wird. Dabei sieht zunächst alles danach aus, als habe sich der Lobbyanwalt vom Balkon von Zimmer 79 des Chateau Marmont Hotels zu Tode gestürzt. Bei ihren Ermittlungen stoßen Bosch und sein Partner, der hinter Boschs Rücken Informationen an eine Reporterin der Los Angeles Times weitergibt und so Boschs Vertrauen nachhaltig untergräbt, auf die Neuvergabe von Taxilizenzen, bei der sowohl der Stadtrat als auch sein Sohn die Finger im Spiel hatten. Der Geschädigte ist ausgerechnet Robert Mason, ein alter Cop, der Bosch allerdings ein wasserdichtes Alibi für Irvings Todeszeitpunkt präsentiert… 
„Mason stand auf und ging mit gesenktem Kopf zum Ausgang. Bosch sah ihm hinterher und dachte über die Wechselwirkung von Beziehungen und Ermittlungen nach. Er war in der Erwartung hierhergekommen, einen korrupten Polizisten zu finden, der einen Schritt zu weit gegangen war. Stattdessen betrachtete er Mason inzwischen als ein weiteres Opfer Irvin Irvings. Und ganz oben auf der Liste von Irvings Opfern stand dessen eigener Sohn. Vielleicht brauchte sich Mason gar keine Gedanken zu machen, wie er den Stadtrat am besten zur Rede stellen sollte. Vielleicht kam ihm Bosch zuvor.“ (S. 253) 
Auch in Boschs neuen Fällen ist mal wieder „High Jingo“ angesagt, die vertrackte Verquickung von Polizeiarbeit und Politik. Connelly ist als ehemaliger Verfasser von Polizeireportagen erfahren genug, um diese Fallstricke immer wieder in packende Krimis zu verpacken. Wie so oft sind es gleich zwei Fälle, mit denen es Bosch und sein ungeliebter Partner Chu in „The Drop“ zu tun bekommen, wobei der Originaltitel in erster Linie auf den Deferred Retirement Option Plan – kurz: DROP - anspielt, an dem Bosch als bereits pensionierter Cop teilnimmt. Das erhöht nicht nur das Tempo der Erzählung, sondern fesselt auch die Aufmerksamkeit der Leserschaft. 
Connelly liefert, was er am besten kann: akribisch beschriebene Ermittlungsarbeit mit etlichen Spuren, wobei nur der Irving-Fall etwas kniffliger zu sein scheint, während der Cold-Case-Fall von Lily Price vor allem dazu dient, Bosch eine neue Liebschaft zu verschaffen und ein actionreiches Finale zu präsentieren. 
„Der Widersacher“ lebt wie eigentlich alle Bosch-Romane von der charismatischen Persönlichkeit des Protagonisten, der auch mal Fehler macht, sich diese aber auch eingesteht. Zwar verderben etwas arg viele Zufälle eine durchweg glaubwürdige Story, aber für Connelly-Fans ist „Der Widersacher“ ein Muss.


Heinz Strunk – „Zauberberg 2“

Mittwoch, 4. Dezember 2024

(Rowohlt, 288 S., HC) 
In seinem 1924 veröffentlichten, 1000 Seiten umfassenden Bildungsroman „Der Zauberberg“ fühlte sich Thomas Mann von einem Besuch in einem Sanatorium inspiriert, in dem seine lungenkranke Frau therapiert wurde, und ließ seinen Protagonisten Hans Castorp für sieben Jahre in einem Sanatorium in den Schweizer Bergen verweilen. Heinz Strunk („Fleisch ist mein Gemüse“, „Jürgen“) hegte seit sieben Jahren schon die Idee, Manns Klassiker in die Neuzeit zu überführen. Sein schmales Bändchen „Zauberberg 2“ könnte man als Fortsetzung missverstehen, stattdessen verströmt der Roman den typischen Strunk-Touch und liest sich bis auf ein Kapitel zum Schluss wie ein moderner Abgesang auf gewinnmaximiert geführte Therapiehäuser. 
Bereits mit Mitte dreißig muss sich Jonas Heidbrink keine Sorgen mehr um seinen Lebensunterhalt machen. Sein Start-up hat er so gut verkauft, dass er nie mehr arbeiten muss, doch mit dieser Erkenntnis geht eine mit Angstzuständen und Langeweile einhergehende Sinnkrise einher, mit der sich der in Neumünster geborene und in Hamburg lebende „Erfinder“ in einem Sanatorium in der mecklenburgischen Einöde kurz vor der polnischen Grenze in dreißig Tagen auseinanderzusetzen gedenkt. Doch die ärztliche Eingangsuntersuchung bringt noch andere Baustellen ans Licht: Der Verdacht auf Hautkrebs, eine Fettleber und einen Nierentumor muss erst einmal ausgeräumt werden. 
Bis dahin und darüber hinaus setzt sich Heidbrink wie seine Leidensgenossen Tag für Tag mit der einlullenden Sanatoriums-Routine auseinander, mit Visiten, aus Klassikern der Hausmannskost bestehenden Mahlzeiten in fest strukturierten Gruppen und natürlich diversen Therapien. Heidbrink findet weder die Musiktherapie noch die Fototherapie oder Bibliotherapie besonders heilsam, weshalb sich in Heidbrink immer mehr der Wunsch nach selbstgewählter Isolation breitmacht. Aus dem geplanten Monat wird erst ein halbes Jahr, dann ein ganzes. Heidbrink sieht Klienten kommen und gehen, bemerkt aber auch den schleichenden Niedergang des Hauses. 
Da wird erst ein Nebengebäude geschlossen, das Essen schmeckt nach in der Mikrowelle aufgewärmtes Convenience Food, das Personal wird sichtlich abgebaut, und Heidbrink geht es noch immer nicht besser… 
„Das Klinikum ist nun so groß wie die ganze Welt. Ein mächtiges Gebäude an einer anonymen Straße in einer fremden Gegend in einem verlassenen Land. An jedem Dritten des Monats erhält Heidbrink seine Privatliquidation, die er unverzüglich begleicht. Morgens kämpft er sich, unter einer Ladung Schotter in einem tiefen Schacht begraben, aus Schichten von Müdigkeit, Langeweile und Dumpfheit hoch an die Oberfläche. Er fürchtet die schlaflosen Nächte, die endlosen Nachmittage, all die leeren Stunden.“
Heinz Strunk versteht „Zauberberg 2“ als Hommage an Thomas Manns berühmten Klassiker „Der Zauberberg“ und hat die Begebenheiten entsprechend angepasst. Das Sanatorium hat Strunk von den Schweizer Alpen ins norddeutsche Flachland verlegt, aus Lungenkranken seelische Wracks gemacht, die von den Ärzten möglichst lange in der Heilanstalt „festgehalten“ werden. 
Strunks Roman umfasst nicht mal ein Drittel von Manns Werk, doch nimmt sich der Wahlhamburger genügend Zeit, um in der dritten Person von den Zuständen in dem Sanatorium zu erzählen. Die Vorgeschichte seines Protagonisten beschränkt sich auf das Notwendigste. Wichtig scheinen nur die Zustände im Hier und Jetzt. Das liest sich die erste Hälfte recht eintönig, weil im Klinik-Alltag vor allem den Alltag strukturierende Routine angesagt ist. Das macht Strunk nicht zuletzt durch die wiederholte Auflistung von Heidbrinks Vitalwerten deutlich („Sauerstoff 97, Temperatur 36,5, Blutdruck 128:82, Puls 65“). Davon abgesehen erfahren wir mehr über Heidbrinks LeidensgenossInnen als über ihn selbst. 
In der ersten Hälfte des Romans ist es vor allem Strunks ausgefeilter Stil, der die triste Atmosphäre auflockert, in der zweiten Hälfte verändert sich merklich der Ton. Das hängt nicht nur mit dem schleichenden Niedergang des Sanatoriums, sondern vor allem mit den Psychopharmaka zusammen, die Heidbrink immer weniger gut verträgt. Das bietet Strunk die Steilvorlage, in dem Kapitel „Kirgisenträume“ ausgiebig aus Manns Vorlage zu zitieren. 
Sicher, Strunk blickt mit „Zauberberg 2“ fast schon subversiv pedantisch in die seelischen Abgründe unserer Zeit, doch kann er sich dabei ein immer wieder aufflackerndes Schmunzeln nicht verkneifen.

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 8) „Ein Brief aus München“

Samstag, 30. November 2024

(btb, 428 S., HC) 
Mit seinen Romanen um Kommissar Van Veeteren avancierte der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser in den 1990er Jahren zu einem der erfolgreichsten Autoren skandinavischer Kriminalliteratur. Nach zehn Jahren und zehn Romanen war es für Nesser offenbar Zeit, mit einer neuen Figur etwas neues Terrain zu erkunden. So erblickte im Jahr 2006 der erste Roman um Inspektor Gunnar Barbarotti das Licht der Bücherwelt. Nach Romanen wie „Mensch ohne Hund“, „Eine ganz andere Geschichte“ und zuletzt „Schach unter dem Vulkan“ erscheint nun mit „Ein Brief aus München“ bereits der achte Band um den mittlerweile längst zum Kommissar beförderten Barbarotti. 
Der egozentrische und erfolgreiche schwedische Maler Ludvig Rute lädt im Dezember 2020 seine drei Geschwister mit ihrem Anhang zu einem gemeinsamen Weihnachtsfest in ein abgelegenes Anwesen in der Nähe eines Waldes ein. Mitten in der Corona-Pandemie machen sich der ehemalige Restaurantbesitzer Lars mit seiner Frau Ellen ebenso auf den Weg wie der promovierte Dozent Leif und die Schauspielerin Louise mit ihrer bereits erwachsenen Tochter Linn. Ungewöhnlich an diesem Arrangement, das Ludvigs sehr junge Lebensgefährtin Catherine auf Wunsch ihres sterbenskranken Geliebten initiiert hat, ist der Umstand, dass sich die Geschwister seit 25 Jahren nicht gesehen haben und dass niemand weiß, dass auch die anderen Geschwister eingeladen sind. Doch das Wiedersehen verläuft anders als geplant, nach dem gemeinsamen Abendessen wird der Gastgeber von Catherine nämlich am nächsten Morgen erschlagen in der Galerie aufgefunden. Da zwei seiner wertvollsten Bilder dort ebenfalls verschwunden sind, glaubt die Familie zunächst, dass ein Bilderdieb für die Tat verantwortlich gewesen sein muss. Doch Kommissar Barbarotti, der von Polizeichef Stigman mit den Ermittlungen beauftragt wird, kommt mit seiner Partnerin und Lebensgefährtin Eva Backman bald zu einem anderen Schluss, zumal weitere Todesfälle in der Familie für Aufsehen sorgen. Der Grund für diese Vorfälle scheint auf „eine alte Geschichte“ zurückzufallen, auf das letzte Familientreffen im Sommer 1995… 
„Ich treffe zu viele Menschen mit Leichen im Keller, das gehört zur Arbeitsbeschreibung eines ermittelnden Bullen. Aber weg damit. Es war unbestritten die Mühe wert, sich Gedanken über die Geschwister Rute zu machen, die jeder für sich vielleicht gar nicht so dysfunktional waren, aber als Quartett schien eine dunkle Wolke über ihnen zu hängen.“ (S. 264) 
Mit seinem achten Barbarotti-Roman präsentiert uns Håkan Nesser einen klassischen Whodunit-Plot, in dem der Ermittler erst nach 100 Seiten die Bühne betritt. Bis dahin lässt der Autor die Geschwister, die Tochter und die Lebensgefährtin in eigenen Kapiteln als Ich-ErzählerInnen auftreten. Das erlaubt Nesser, dass sich die wenigen Figuren dieses Ensemble-Dramas quasi selbst vorstellen, ihre jeweilige Biografie und ihr Verhältnis zum Gastgeber und den anderen Geschwistern beschreiben. 
Die eigentliche Ermittlungsarbeit wird vor dem bedrückenden Hintergrund der Pandemie geschildert, wozu vor allem die Versammlungsbeschränkungen, Zeugenbefragungen via Zoom und Zimmerservice statt Restaurantbesuch zählen. 
„Ein Brief aus München“ (die Bedeutung des Titels wird übrigens erst zum Schluss offenbart) fasziniert weniger durch den eher konventionell aufgebauten Krimi-Plot, sondern wie so oft bei Nesser durch den besonderen Schreibstil, der viel Raum für Humor und zwischenmenschliche Nuancen lässt.

Uwe Schütte – „Wir sind die Roboter. Kraftwerk und die Erfindung der elektronischen Musik“

Sonntag, 24. November 2024

(btb, 384 S., Pb.) 
Will man die Frage nach dem wichtigsten deutschen Musik-Export beantworten, ist man heutzutage wahrscheinlich versucht, Hans Zimmer zu nennen, weil der aus Frankfurt am Main stammende Autodidakt für eine Vielzahl von Soundtracks für Hollywood-Blockbuster wie „Pearl Harbor“, „Rain Man“, „Thelma & Louise“, „Gladiator“, „Interstellar“ und „Dune“ verantwortlich zeichnet. Doch auch die Wall-of-Sound-Arrangements eines Hans Zimmer wären nicht möglich gewesen ohne das revolutionäre musikalische wie gesamtkünstlerische Konzept von Kraftwerk, die für viele Fans, Musikjournalisten und Kulturwissenschaftler sogar einflussreicher als die Beatles angesehen werden. Uwe Schütte darf fraglos als einer der ausgewiesenen Pioniere der elektronischen Musik betrachtet werden, hat der studierte Germanist nicht nur an der Aston University ein Symposium über die künstlerische Bedeutung von Kraftwerk konzipiert und organisiert, sondern auch den Essayband „Mensch – Maschinen – Musik: Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk“ herausgegeben und den englischsprachigen Band „Kraftwerk: Future Music from Germany“ veröffentlicht. Mit „Wir sind die Roboter. Kraftwerk und die Erfindung der elektronischen Musik“ legt Schütte nun zum 50. Jahrestag des bahnbrechenden Albums „Autobahn“ eine umfangreiche Werksbiografie vor, die die „Geburt der elektronischen Popmusik aus dem Geiste einer ,industriellen Volksmusik‘“ vor allem vor dem Hintergrund künstlerische Einflüsse auf die vier Mensch-Maschinen-Musiker Ralf Hütter, Florian Schneider, Karl Bartos und Wolfgang Flür beleuchtet, aber auch den nachhaltigen Einfluss dokumentiert, den Kraftwerk auf die weitere Entwicklung der elektronischen Musik ausüben sollte. 
Was Anfang der 1970er Jahre im Kling-Klang-Studio in der Nähe des Düsseldorfer Hauptbahnhofs entstanden ist, lässt sich als „kulturelles Phänomen von transnationaler Reichweite“ beschreiben, bei dem minimalistische und retro-futuristische Prinzipien zu einer Reihe von bahnbrechenden Konzeptalben geführt haben, die durch die multimediale Kombination aus synthetischen Klängen, einheitlichem Grafikdesign und einer sich stets weiterentwickelnden Aufführungspraxis, die ebenso wie die Musikproduktion im strengen Gegensatz der Rock’n’Roll-Attitüde steht. 
Schütte zeigt auf, dass gerade Kraftwerks Spiel mit ihrer deutschen Identität, vor allem mit teutonischen Klischees im englischsprachigen Ausland zum internationalen Erfolg der Musikarbeiter beitrug. Für Kraftwerk selbst ging es jedoch eher um die Identifikation mit der politischen Vision eines friedlich vereinten Europas, um so einen eigenständigen Weg aus dem Vakuum zu finden, das der Faschismus in der deutschen Kultur hinterließ. 
Düsseldorf avancierte zur Hauptstadt der elektronischen Musik, brachte nicht nur die beiden Kraftwerk-Ableger Neu! und La Düsseldorf hervor, sondern später auch Acts wie DAF (Deutsch Amerikanische Freundschaft), Propaganda, Der Plan, Die Krupps und Rheingold. Die aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Hütter und Schneider ließen sich bei ihrer Konzeptkunst nicht nur von der hochexperimentellen Musik Karlheinz Stockhausens inspirieren, sondern auch von Fritz Langs expressionistischen Meisterwerk „Metropolis“ (1927) und dem 1919 in Weimar gegründeten Bauhaus, dessen Vision einer neuen funktionalistischen Lebensweise zu einer Veränderung der Gesellschaft führen sollte. 
 Der Autor beschreibt nicht nur die Einflüsse aus verschiedenen Kunstrichtungen auf das Gesamtkunstwerk von Kraftwerk, er geht auch in die Tiefe der einzelnen Konzeptalben und darüber hinaus. Schütte berücksichtigt nämlich auch das inoffizielle Frühwerk, von dem sich die Band spätestens mit dem Album „Autobahn“ (1974) distanzierte, und die späteren Live- und Remix-Alben, die deutlich machen, welche Entwicklung die Musik von Kraftwerk auch in der heutigen Zeit noch durchmacht. 
Für Kraftwerk-Fans als auch einfach nur an der Band und ihrer Musik interessierte Leser bietet „Wir sind die Roboter“ jedenfalls einen gut lesbaren, klug strukturierten, mit vielen interessanten Zitaten, Beobachtungen und Analysen versehenen Zugang zur konzeptionell so ausgefeilten und einflussreichen Kunst von Kraftwerk, wobei er auf der einen Seite den transatlantischen Austausch zwischen Kraftwerk und der Techno-Szene in Detroit hervorhebt, auf der anderen Seite aber auch vorführt, wie beispielsweise Rammstein im Gegensatz zu Kraftwerk oder den aus dem slowenischen Künstlerkollektiv NSK entstandenen Laibach unverantwortlich und geschmacklos mit nationalistischen Parolen rechtspopulistische Anhänger für sich vereinnahmen. Dass Kraftwerk eben nicht eine rein nationale, sondern vor allem europäische, eigentlich sogar kosmopolitische Band sind, gehört zu den wichtigsten Aussagen in diesem wertvollen Buch. 

Jo Nesbø – (Ihr Königreich: 2) „Der König“

Mittwoch, 13. November 2024

(Ullstein, 432 S., HC) 
Neben seiner Reihe um den eigensinnigen Kommissar Harry Hole, die den norwegischen Schriftsteller berühmt gemacht hat, veröffentlicht Jo Nesbø in den vergangenen Jahren auch immer öfter davon unabhängige Romane, die in ihrer Qualität allerdings sehr unterschiedlich ausfallen. Vor vier Jahren hat Nesbø mit „Ihr Königreich“ einen Thriller veröffentlicht, der das ehrgeizige Spa-Hotel-Projekt der beiden Brüder Roy und Carl Opgard thematisierte – und allerlei Intrigen, Affären und Morde, mit denen die Opgards ihr Hab und Gut und ihre ambitionierten Pläne zu retten versuchten. Nun ist mit „Der König“ eine fesselnde Fortsetzung erschienen. 
Roy Opgard und sein jüngerer Bruder Carl haben sich mit Os Spa ihren Traum von einem Luxushotel in ihrem Heimatort Os verwirklicht. Während Carl sich vornehmlich um das Hotel kümmert, verantwortet Roy die Tankstelle und eine Kneipe, schlägt sich aber vor allem mit den Plänen für die weltgrößte Holzachterbahn herum, die zum Prunkstück eines dazugehörigen Freizeitparks werden soll. 
Einmal mehr sind die beiden Brüder, die mehr als nur den Mord an ihren Eltern auf dem Gewissen haben, gezwungen, mit etlichen Herausforderungen zu kämpfen und dabei wenig zimperlich auch den einen oder anderen Querulanten über die Klinge springen zu lassen. Zunächst einmal sind die beiden Geologen davon zu überzeugen, in ihrem Gutachten zu dem Schluss zu kommen, dass der geplante Todde-Tunnel nicht gebaut werden kann, denn mit dem Tunnel würde der Riksveis, der schon immer durch Os geführt hat, vom Ort weg verlegt werden, was dem Hotel und seinem Wert unermesslichen Schaden zufügen würde. 
Aber auch der örtliche Polizeichef Kurt Olsen, gleichzeitig Trainer der von Carl und Roy gesponserten Fußballmannschaft von FK Os, hängt den beiden Brüdern an den Fersen, ist er doch – zurecht – davon überzeugt, dass sie ihre Finger im Spiel beim Tod seines Vaters hatten. Auf jeden Fall müssen die Opgards einen großen Kredit aufnehmen, um nicht die Geologen bestechen, sondern auch den geplanten Freizeitpark realisieren können. Es müssen also einige Schlüsselfiguren entsprechend bearbeitet werden, aber auch die Brüder kommen sich bei der Realisierung ihrer jeweiligen Träume zunehmend einander ins Gehege… 
„Es ist merkwürdig, wenn einem ein Mensch, mit dem man über so viele Jahre so eng zusammengelebt hat, plötzlich wie ein Fremder vorkommt. Man schiebt es auf das Licht oder die eigene Müdigkeit, schließlich handelt es sich ja um den eigenen kleinen Bruder, der nichts vor die verbergen kann, bis einem klar wird, dass man ja noch nicht einmal sich selbst richtig kennt.“ 
Wie schon in dem – fast verjährten - Vorgänger „Ihr Königreich“ lässt Nesbø auch in „Der König“ Roy Osgard als Erzähler auftreten, was der Geschichte eine sehr persönliche, aber eben auch bewusst subjektive, einseitige Perspektive verleiht. Die wesentlichen Ereignisse, Umstände und Beziehungsgeflechte des ersten Romans werden dem nichtkundigen Leser nebenbei vermittelt, vor allem der von Roy forcierte Mord an den eigenen Eltern, nachdem sich der Vater an Carl vergangen hatte. Dass Roy immer wieder Carls „Pannen“ ausbügeln muss, kommt auch in „Der König“ zum Tragen, bis aus der eingeschworenen Bruderliebe eine tödliche Rivalität wird. Schließlich haben die beiden Alphatiere ihr Leben lang u.a. Spaß daran gehabt, ihrem Bruder die Lebensgefährtin auszuspannen. 
Diesmal spielt Roys neue, sehr junge Freundin Natalie Moe eine entscheidende Rolle. Die romantische Beziehung zwischen Roy und Natalie verleiht dem Ich-Erzähler einige Sympathiepunkte, erscheint er hier doch durchaus als liebenswerter Mensch, was man von seinem sonst sehr pragmatischen, eigennützigen Verhalten nicht sagen kann. Nesbø baut geschickt die Spannung und die Konflikte auf, überspannt bei den Wendungen zum Finale etwas den Bogen, liefert aber alles in allem einen lesenswerten, kurzweiligen Thriller ab, der durchaus Potential für eine weitere Fortsetzung bietet.

James McBride – „Himmel & Erde“

Dienstag, 5. November 2024

(btb, 464 S., Pb.) 
Mit seiner Autobiografie „The Color of Water: A Black Man's Tribute to His White Mother“ hat James McBride, in Brooklyn aufgewachsener Sohn eines afroamerikanischen Pastors und einer polnisch-jüdischen Immigrantin, den multikulturellen Einfluss auf seine Erziehung beschrieben und diese Thematik auch in seinen folgenden Büchern thematisiert. 2013 erhielt er für „The Good Lord Bird“ (dt. „Das verrückte Tagebuch des Henry Shackleford“) den National Book Award for Fiction. Nun erscheint mit „Himmel & Erde“ der nächste, von Publishers Weekly zum „Buch des Jahres“ gekürte große Wurf von James McBride
Als im Juni 1972 ein Bauträger in Pottstown, Pennsylvania, Häuser einreißen lässt, um Platz für neue Reihenhäuser zu schaffen, stoßen die Arbeiter in einem alten Brunnen auf ein menschliches Skelett und eine Mesusa, weshalb sie Rat bei einem alten Juden bei der alten Synagoge auf dem Chicken Hill suchen. 47 Jahre zuvor unterhielt der jüdische Moshe Ludlow das „All-American Dance Hall & Theater“ in der Main Street, wo er anfing, nicht nur jüdische Musiker für ein jüdisches Publikum zu präsentieren, sondern versuchte es auch mit dem schwarzen Entertainer Chick Webb, der das schwarze Publikum mit seinem ausgelassenen, stampfenden Jazz begeisterte. 
Ebenso offen hielt es seine Frau gehbehinderte Frau Chona. Die Afroamerikanerin unterhielt mit dem „Heaven & Earth Grocery Store“ einen Gemischtwarenladen, in dem sowohl die Juden als auch die Schwarzen einkauften. Während die jüdischen Einwanderer und die Schwarzen gut miteinander auskommen, machen ihnen die weißen Christen zunehmend zu schaffen. 
Als sich Doc Roberts, Anführer der örtlichen Ku-Klux-Klan-Gruppe, an Chona vergehen will, beobachtet der taube Zwölfjährige Dodo den Vorfall und soll in die psychiatrische Anstalt von Pennhurst eingeliefert werden. Die Ludlows haben sich bis dahin des Jungen angenommen, der zuvor bei dem Moshes schwarzen Angestellten Nate gelebt hat. Tatsächlich geht Dodo seinen weißen Häschern ins Netz, doch als die Gemeinschaft auf dem Chicken Hill von den Zuständen in Pennhurst erfährt, setzen sie alles in Bewegung, um Dodo aus den Fängen des selbsternannten „Menschensohns“ zu befreien… 
„Die Gruppe der Besucher bewegte sich langsam in ihre Richtung, während Moshes Schluchzen von den Wänden widerhallte, von einer Seite zur anderen, den Flur hinauf und hinunter. Doc Roberts war vergessen, die Gruppe trat voran, eine bunte Mischung demütigender Reisender, als mäße jeder Schritt tausend Kilometer, als kämen sie von fernen Kontinenten und durchquerten ein Land, das so groß zu sein behauptete, ein Land, das ihnen so viel gab, aber so viel mehr verlangte.“ (S. 272) 
McBride nutzt den Prolog, um ein klassisches Krimi-Setting zu installieren, das mit dem Fund einer Leiche die Frage sowohl nach der Identität des Opfers als auch des Täters bzw. der Täter/in offenlässt. Doch mit dem Rückblick auf das multikulturelle Leben in Pottstown in den 1920er und 1930er Jahren scheint es dem Autor weniger darum zu gehen, den Mord aufzuklären, sondern das Milieu zu beschreiben, in dem die unterschiedlichsten Menschen in eher ärmlichen Verhältnissen lebten. 
In seinem Dankwort zum Schluss erzählt Jim McBride, dass der Roman durch den Leiter eines Camps in Pennsylvania inspiriert worden ist, in dem der Autor selbst als Student vier Sommer lang gearbeitet hat. Dieser Leiter sei McBride ein Vorbild an der Vermittlung von Inklusion, Liebe und Akzeptanz gewesen. Dieses Gefühl strahlt auch „Himmel & Erde“ aus. Trotz schwieriger Lebensumstände schaffen es die Einwohner von Pottstown, ihre kulturellen Differenzen zu überwinden und für ein gutes Miteinander einzustehen. McBride beschreibt seine Figuren mit viel Liebe zum Detail und macht vor allem das Ludlow-Ehepaar zu Helden einer Erzählung, in der die Unterschiede in Hautfarbe, Religion und Herkunft nicht die Grundlage für Hass und Misstrauen sind, sondern für Akzeptanz, Vertrauen, Mitgefühl und Liebe. Diese Botschaft ist gerade in der heutigen Zeit mindestens ebenso wichtig wie seit jeher.


David F. Ross – (Schottland-Trilogie: 1) „Schottendisco“

Donnerstag, 31. Oktober 2024

(Heyne Hardcore, 334 S., Pb.) 
Mit Irvine Welsh („Trainspotting“, „Porno“) und John Niven („Music from Big Pink“, „Gott bewahre“) hat Schottland seit den 1990er Jahren zwei Autoren hervorgebracht, die mit derbem britischem Humor, einem unverblümten, sozialkritischen Blick auf die Gesellschaft und ausgefallenen Plots eine Ausnahmeerscheinung in der britischen Literaturszene darstellten. 2015 wurde dieses Duo um einen weiteren interessanten Namen erweitert. Da veröffentlichte David F. Ross nämlich seinen Debütroman „Last Days of Disco“, der hierzulande von Heyne Hardcore – der langjährigen Heimat von Welsh und Niven – unter dem Titel „Schottendisco“ veröffentlicht wurde und den Auftakt einer Trilogie bildete, die mit „Schottenrock“ und „Schotten dicht“ fortgesetzt worden ist. 
Bobby Cassidy und Joey Miller sind seit ihrer Schulzeit die besten Kumpels, allerdings wissen die beiden Halbwüchsigen Anfang der 1980er Jahre in dem schottischen Kaff Kilmarnock wenig mit sich anzufangen. Während die Thatcher-Regierung mittlerweile drei Millionen Arbeitslose zu verantworten hat und auf den weit entfernten Falkland-Inseln ihr einst erobertes Territorium mit Waffengewalt zu verteidigen sucht, kommen Bobby und Joey auf die Idee, ihren Lebensunterhalt mit einer mobilen Disco zu verdienen. Allerdings ist die Unterhaltungsbranche fest in den Händen von Möchtegern-Corleone Fat Franny Duncan, der jede Art von Party mit seiner skurrilen Truppe beschallt. 
Bobbys Vater Harry, der nach einem Unfall in der Teppichfabrik als Hausmeister in der Schule arbeitet, macht ihn auf einen Aushang am Schwarzen Brett im Lehrerzimmer aufmerksam, mit dem eine mobile Disco für eine private Party gesucht wird. Bobby und Joey nennen sich nach einem alten Soul-Klassiker Heatwave, leihen sich das nötige Equipment und müssen zunächst enttäuscht miterleben, wie ihre ersten Tantiemen nicht in ihre eigenen Taschen wandern. 
Doch nach einem holprigen Start mischen Heatwave die lokale Partyszene dermaßen auf, dass der Geschäftsmann Mickey Martin den beiden Jungs anbietet, den geplanten Mega-Nachtclub-Komplex am Foregate zu bespielen. Doch das kann Fat Franny natürlich nicht zulassen… 
„Fat Franny war clever, und er hatte die zunehmend distanzierte Haltung eines consigliere in den letzten Monaten durchaus bemerkt. Genau genommen hatte er sie sogar ganz oben auf die Liste von Gründen gesetzt, weshalb das Geschäft momentan nicht lief. Michael Corleone hätte ihn schon vor Wochen beseitigen lassen, aber der Don würde eine derart heikle Situation subtiler lösen.“ (S. 188) 
Mit „Schottendisco“ ist dem in Glasgow geborenen David F. Ross ein höchst unterhaltsames Romandebüt gelungen, das zwar vor allem die Musikszene Anfang der 1980er abfeiert (im Anhang findet sich eine Liste von knapp zwanzig Songs, die den Roman inspiriert haben, darunter „Heat Wave“ von The Jam, „Good Times“ von Chic, „Plan B“ von den Dexy’s Midnight Runners und „Don’t You Want Me“ von The Human League), aber bei den humorvoll inszenierten Bemühungen der beiden Protagonisten Bobby und Joey nicht vergisst, in welch desaströs-bedrückender politischer Atmosphäre die Handlung platziert ist. Dazu dienen Ross immer wieder eingestreute Thatcher-Zitate vor allem zur Rechtfertigung des Falkland-Krieges, in den auch Bobbys Bruder Gary involviert wird, der sich aus Frust vor der Perspektivlosigkeit in seinem Leben zum Militärdienst gemeldet hat. 
Dieser Nebenstrang führt vor allem die Sinnlosigkeit von Kriegen an sich und des Falkland-Konflikts im Besonderen vor Augen, erfährt aber eine wenig gelungene Auflösung. Da gibt das Tauziehen zwischen den aufstrebenden Heatwave-Jungs und dem alteingesessenen Fat Franny schon weitaus mehr Unterhaltungswert her, vor allem weil Ross seinen temporeichen Plot mit viel Liebe zum Detail entwickelt und den Zeitgeist zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung authentisch einfängt.

Hanns-Josef Ortheil – „Das Kind, das nicht fragte“

Samstag, 26. Oktober 2024

(btb, 432 S., Tb.) 
Der 1951 in Köln geborene Hanns-Josef Ortheil ist dafür bekannt, dass seine Romane stark autobiografisch geprägt sind. Das kommt vor allem in seinem 2012 veröffentlichten Roman „Das Kind, das nicht fragte“ zum Ausdruck. Ortheil musste als jüngster von fünf Söhnen nicht nur den Tod seiner Eltern innerhalb von acht Jahren verkraften, sondern auch seiner Brüder, die während des Zweiten Weltkriegs und danach gestorben waren. Während die Mutter durch den Verlust ihrer Kinder ihre Sprache verlor, fand der jüngste Ortheil sie erst im Alter von sieben Jahren. Eine ganz ähnliche Biografie weist Ortheils Ich-Erzähler in „Das Kind, das nicht fragte“ auf. 
Der in Köln lebende Ethnologe Dr. Benjamin Merz fliegt im April nach Catania, um in Mandlica an einem Buch mit dem Titel „Die Stadt der Dolci“ zu arbeiten. Er mietet sich in eine Pension ein, die von Maria geführt wird. Sie ist, wie Merz bald erfährt, vor fünfzehn Jahren mit ihrer Schwester Paula aus Bayern während einer Ferienreise nach Sizilien gekommen und geblieben, nachdem sich Paula in Lucio verliebt hatte. Die geplante Hochzeit kam jedoch nicht zustande, stattdessen heiratete Maria den Restaurantbesitzer, doch gehen sie mittlerweile ebenso getrennte Wege. Während Marias Aktivitäten ganz auf den Pensionsbetrieb beschränkt sind, hilft Paula im Restaurant, das zur Pension gehört, aus und arbeitet als Übersetzerin. 
Im Gegensatz zur scheu wirkenden Paula zeigt sich Maria jedoch als äußerst mitteilsam. Sie vermittelt ebenso die ersten Kontakte für Merz‘ ethnologischen Forschungen wie der Buchhändler Alberto. Mit seiner Fähigkeit, zuzuhören, die richtigen Fragen zu stellen und viele Dinge zu ahnen, die zuvor ungesagt blieben, macht Merz in der Stadt auf sich aufmerksam, bis auch Bürgermeister Enrico Bonni bei einem Gespräch im Rathaus den Ethnologen bittet, Mitglied einer von Prof. Matteo Volpi geleiteten Kommission zu werden, die ein in fünf Jahren geplantes Großereignis zur Feier der Kultur der sizilianischen Dolci vorbereitet. Mittlerweile hat Merz auch Paula näher kennengelernt und sich in sie verliebt. 
 „Ich tue so, als ginge die Zeit nicht voran, ich sitze da und warte darauf, dass ich wieder in dieser Vergangenheit ankomme. In dieser Vergangenheit möchte ich dicht neben Paula sitzen, und ich möchte eine Art von Zeit empfinden, die nicht zu vergehen scheint. Zeit an und für sich! Stillstehende Gegenwart! Keine Gedanken an ein Vorher und Nachher, sondern die pure Präsenz, die Fülle der Zeit!“ (S. 165) 
Doch dann ist da auch noch Adrianna, die ebenso intelligente wie attraktive und selbstbewusste Tochter des Bürgermeisters, die Merz den Kopf verdreht… 
Ist einem die Biografie von Hanns-Josef Ortheil vertraut, kommt man nicht umhin, „Das Kind, das nicht fragte“ als Vergangenheitsbewältigung, als Familientherapie mit einem Hollywood-mäßigen Happy End zu begreifen. Indem der Autor seinen Protagonisten in das Sehnsuchtsland Italien reisen und ins Gespräch mit den Einwohnern einer sizilianischen Hochburg der Dolci-Produktion kommen lässt, macht die Figur einen erstaunlichen Entwicklungsprozess durch. 
Nachdem Merz als kleiner Junge erst durch die angeleitete Zwiesprache mit dem Herrn in der Kirche angefangen hatte, Fragen zu stellen und ein Verständnis für die Welt zu entwickeln, wird in der fiktiven Stadt Mandlica aus dem versierten Fragesteller und Beobachter selbst ein Erzähler des eigenen Lebens, aber bis dahin müssen natürlich einige Hürden genommen werden. 
Am interessantesten stellt sich schnell die Dreiecksgeschichte zwischen Maria, ihrer Schwester Paula und dem Restaurantbesitzer Lucio heraus, und der Ethnologe macht zunächst nicht den Eindruck, als würde er dieser Konstellation eine zusätzliche Dynamik verleihen können. 
„Das Kind, das nicht fragte“ präsentiert sich als leichter Feel-Good-Roman, überzeugt vor allem in der Darstellung des sizilianischen Alltagslebens und als Lehrbuch zur Ethnologie, weniger als Liebesroman. Vor allem die Episode mit Adrianna wirkt überzogen und wenig glaubwürdig, doch als selbsttherapeutischer Ansatz erfüllt der Roman sicher seinen Zweck. 

Don Winslow – „Die Sprache des Feuers“

Dienstag, 15. Oktober 2024

(Suhrkamp, 420 S., Pb.) 
Mit seinen Romanen um die Drogendealer Ben und Chon („Zeit des Zorns“, „Kings of Cool“) sowie die monumentale Reihe um den US-Drogenfahnder Art Keller (u.a. „Tage der Toten“, „Das Kartell“) hat Don Winslow nicht nur die internationalen Bestseller-Listen erobert, sondern durfte sich u.a. auch über den „Deutschen Krimi Preis 2011“ freuen. Mittlerweile hat Winslow eine Vielzahl weiterer – auch verfilmte - Einzelromane und Reihen veröffentlicht, mit denen er seine Meisterschaft, spannende Geschichten zu erzählen, immer wieder eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. Dazu zählt auch der im Original 1999 veröffentlichte Thriller „Die Sprache des Feuers“
Da keine Stellen im Morddezernat vom Orange County Sheriff Department frei waren, hat Jack Wade eine steile Karriere in der Abteilung für Brandstiftung gemacht und mit der attraktiven Kollegin Letty del Rio auch in der Beziehung das große Los gezogen. Doch der offensichtlich vorsätzlich gelegte Brand des Teppichlagers von Kazzy Azmekian wird Wade zum Verhängnis, weil er sich in Ermittlungen gegen die Russenmafia einmischt und sowohl Job als auch Freundin verliert. 
Nun wird er als Brandermittler der Versicherung California Fire & Life zu einem abgebrannten Haus geschickt, bei dem die Überreste der 34-jährigen Pamela Vale von den Sprungfedern ihres Bettes gekratzt werden müssen. Während sein Kollege Brian Bentley schnell dabei ist, den Brand als Unfall zu deklarieren, der durch den Wodka-Konsum der vermeintlichen Alkoholikerin und eine brennende Zigarette verursacht wurde, nimmt Wade das Haus näher in Augenschein und stößt nicht nur auf verschiedene Brandherde, sondern auch ein schlagkräftiges Motiv: Pamelas Mann Nicky, einst mit seinen Immobiliengeschäften der große Zampano im angesagten Dana Strands, steckt mächtig in den Miesen. Das überversicherte Haus mit dem wertvollen, antiquarischen Inventar würde ihm bei einer Schadensregulierung zu seinen Gunsten den Arsch retten. 
Doch egal, wie sehr Jack Wade sich zu beweisen bemüht, Vale den Mord an seiner Frau anzuhängen, scheinen alle daran interessiert zu sein, den Schaden zu regulieren. Es geht schließlich um Versicherungsprämien und den wachsenden Einfluss der Russenmafia. Der Brandermittler hat jedoch vor allem im Sinn, der ermordeten Frau Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und den Tathergang überzeugend zu rekonstruieren: 
„Das Feuer schreibt seine Chronik selbst. Es ist so verdammt stolz auf sich, denkt Jack, dass es gleich anfängt zu reden, dir alles erzählt, was passiert ist. Deshalb steht Jack gleich am nächsten Morgen im Schlafzimmer der Vales. In diesem schwarzen Loch, wo es passierte, und er bleibt still stehen, um das Flüstern des Feuers zu hören. Na los, flüstert es, du bist doch so schlau. Lies mich. Ich habe dir alles aufgeschrieben, aber du musst meine Sprache verstehen.“ (S. 139) 
Mit wenigen kurzen Kapiteln versteht es Winslow, sein Publikum gleich zu Beginn in eine verzwickte Story hineinzuziehen, in der es natürlich um weit mehr geht, als nur einen Brand mit Todesfolge aufzuklären. Winslow hat mit Jack Wade einen sympathischen Protagonisten geschaffen, der mit viel Enthusiasmus „die Sprache des Feuers“ versteht, wobei ihm sein strenger Sinn der Wahrheitsfindung das Genick zu brechen droht, wie es ihm in der Vergangenheit bereits einige Knüppel zwischen die Beine geworfen hat. Winslow macht sich dabei sogar die Mühe, die Gesetzmäßigkeiten des Feuers haargenau und plastisch zu erläutern, ohne einen wissenschaftlichen Diskurs zu veranstalten. 
Vor allem gelingt es ihm in der Folge, in parallel verlaufenden Handlungssträngen und erhellenden Rückblicken das Geflecht aus wirtschaftlichen Interessen, juristischen Fallstricken und mafiösen Strukturen gerade die Elemente herauszuarbeiten, die der Story den besonderen Pfiff verleihen und die Spannung sukzessive zu erhöhen. 
Die leicht verständliche, pointierte Sprache, die kurzen, stakkatoartig aneinandergereihten Sätze, die messerscharfen Dialoge und der kompromisslos harte Plot machen „Die Sprache des Feuers“ zu einem rasanten, fesselnden und temporeichen Thriller der Extraklasse.


Robert Ludlum – (Jason Bourne: 1) „Die Bourne Identität“

Freitag, 11. Oktober 2024

(Heyne, 640 S., Tb.) 
Als Doug Liman im Jahr 2002 „Die Bourne Identität“ mit Matt Damon und Franka Potente in den Hauptrollen verfilmte, war noch nicht abzusehen, dass er mit dem virtuos inszenierten Spektakel den Maßstab für das Action-Kino neu definierte und damit auch eine realistischere Ausrichtung des vergleichbaren James-Bond-Franchises bewirken sollte. Kaum vorstellbar war auch die Tatsache, dass „Die Bourne Identität“ auf einem Thriller beruht, den der 2001 verstorbene Genre-Spezialist Robert Ludlum bereits 1980 veröffentlicht hatte. 1988 verfilmte bereits Roger Young den Roman als Fernseh-Zweiteiler mit Richard Chamberlain und Jocelyn Smith in den Hauptrollen, wobei er sich weit enger an die Romanvorlage hielt als Liman 14 Jahre später. 
Kurz vor der französischen Küste bei Ile de Port Noir wird ein schwer verletzter Mann durch die Besatzung eines Fischerbootes geborgen und zu einem englischen Arzt auf die Insel gebracht. Geoffrey Washburn kümmert sich aufopferungsvoll um seinen ungewöhnlichen Patienten, versorgt seine Schusswunden und entdeckt dabei ein Stück Zelluloid, das dem Mann unter die Haut an der rechten Hüfte eingesetzt worden war. Die Daten eines Nummernkontos bei der Gemeinschaftsbank in Zürich sind jedoch der einzige Hinweis auf die Identität des Mannes, der sich an nichts vor seinem folgenschweren „Unfall“ erinnern kann, schon gar nicht an seinen Namen. 
Nach seiner Genesung lässt sich der Mann, der sich Jean-Pierre nennt, mit einem gefälschten Pass versorgen und nach Marseille bringen, um von dort nach Zürich zu fliegen, wo er in dem Schließfach der Bank nicht nur ein Guthaben von mehr als fünf Millionen Dollar und den Verweis auf eine Firma namens Treadstone Seventy-One vorfindet, sondern auch seinen Namen: James Charles Bourne! Doch noch bevor Bourne die Bank verlassen kann, wird er von Wachmännern attackiert. Bourne kann jedoch fliehen und sich in einem Hotel verstecken. Dort kidnappt er die kanadische Volkswirtschaftlerin Dr. Marie St. Jacques. 
Anfangs sträubt sich die Regierungsbeamte, Bourne bei seiner Flucht zu unterstützen, doch als sich ihre Wege trennen und Bourne sie später von ihrem Vergewaltiger befreit, verlieben sich die beiden und gehen gemeinsam den Hinweisen nach, die aufklären sollen, wer Jason Bourne wirklich ist. Dabei gibt es nicht nur Verbindungen zu einem weltweit operierenden Auftragskiller namens Cain, sondern dem allseits gefürchteten Killer Carlos, dessen Rang Cain offensichtlich ablaufen will. Die US-amerikanischen Geheimdienste sind mehr als beunruhigt über die Entwicklungen in Zürich und Paris, sehen jedoch eine Chance, Cain zu Carlos zu führen und damit beide unliebsamen Killer auf einen Schlag zu eliminieren. Bourne ist sich bewusst, dass er seine weiteren Schritte ohne seine Geliebte würde unternehmen müssen… 
„Er war wieder in das Labyrinth zurückgekehrt und wusste, dass es kein Entrinnen gab. Aber er würde weiter nach seiner wahren Identität forschen – ohne Marie. Die Entscheidung war unumstößlich. Es würde keine Diskussionen, keine Debatte geben, keine Vorwürfe. Er wusste, wer er war… was er gewesen war; er war schuldig im Sinne der Anklage – wie er das vermutet hatte.“ (S. 311) 
Mit seinem ersten „Bourne“-Roman hat Ludlum einen modernen Klassiker des Agenten-Thrillers geschaffen, der allerdings nur das Grundgerüst für die 22 Jahre spätere Verfilmung durch Doug Liman bildet. Während Liman und seine Drehbuchautoren Tony Gilroy und William Blake Herron den Fokus auf die spektakulär inszenierte Nahkampf-Action, exotische Drehorte und eine zwingende Verschlankung des Plots und Figurenarsenals gelegt haben, hat sich Ludlum in „Die Bourne Identität“ ganz auf das Verwirrspiel der verschiedenen US-amerikanischen Abwehrdienste, die Jagd auf den internationalen Auftragsmörder Carlos (der in der Verfilmung überhaupt nicht vorkommt) und Jason Bournes Suche nach seiner wahren Identität konzentriert. 
Die Liebesbeziehung zwischen Bourne und Marie (die im Gegensatz zur naiv wirkenden Figur in der Verfilmung als aufgeweckte Wissenschaftlerin auf Augenhöhe mit Bourne agiert) ist Ludlum nicht unbedingt glaubwürdig gelungen, dafür bietet die Geschichte eines Agenten, der nur in bruchstückhaften Erinnerungen eine Idee von seiner wahren Natur vermittelt bekommt, genügend Stoff für häufige Ortswechsel, ein irgendwann unüberschaubares Figurenarsenal und moderate Action. 
Und die Auflösung hält ganz bewusst die Möglichkeit für weitere Fortsetzungen offen, die allerdings noch weniger mit den ebenfalls nachfolgenden Verfilmungen zu tun haben.