Moritz Heger – „Die Zeit der Zikaden“

Dienstag, 2. Juli 2024

(Diogenes, 302 S., HC) 
Der Stuttgarter Moritz Heger hat sich nach seinem Studium zunächst der Freien Kunst, dann der Germanistik, evangelischen Theologie und Theaterwissenschaften nicht darauf beschränkt, allein als Gymnasiallehrer seine Brötchen zu verdienen. Vielmehr hat er sich auch dem Jugendtheater und der Schriftstellerei zugewandt. In seinem 2021 veröffentlichten Debütroman „Aus der Mitte des Sees“ musste sich ein Mönch an der Schwelle zu seinem 40. Geburtstag mit der Frage auseinandersetzen, ob er die Leitung des Klosters übernehmen oder sich dem Leben vor den Klostermauern widmen soll. 
In einem ähnlichen Kontext bewegt sich auch Hegers neuer Roman „Die Zeit der Zikaden“, zwingt der Autor auch diesmal seine Figuren, sich intensive Gedanken über die Zukunft ihres Lebens zu machen. 
Mit 36 Jahren im Schuldienst verabschiedet sich die 63-jährige Alex („Fraumaaattmann“) Mattmann in den Ruhestand. Dabei heißt es, nicht nur die langjährige Affäre mit ihrem Schuldirektor, sondern auch das von ihr geleitete Theater-AG und vor allem die Mietwohnung hinter sich zu lassen. Ein jüngst erworbenes Tinyhouse auf Rädern steht mehr als nur symbolisch für ihren Neuanfang. 
Die Einladung zur Hochzeit ihrer ehemaligen Schülerin Wibke kommt Alex gerade recht. Während der Feier lernt sie Wibkes Schwiegervater Johann kennen, einen 56-jährigen Bestatter, der sein Unternehmen in die Hände seines Sohnes legt und sich nach Veränderung sehnt, da seine Ehe mit Marion gefühlt nur noch auf dem Papier existiert. 
Als sie den Vorschlag macht, dass er doch für ein paar Monate nach Ligurien gehen solle, um in dem geerbten Steinhaus des Malers Renat nach dem Rechten zu sehen, fällt ihm die Entscheidung leicht, doch kann er das italienische Lebensgefühl nicht unbeschwert genießen, da sich Marions und seine gemeinsame Tochter Nora von ihnen abgewandt hat. Bevor sich Johann aber in seinem zeitweisen depressiven Gemütszustand verliert, lädt er Alex ein, ihn in ihrem Tinyhouse zu besuchen. Der Abstecher zu ihrer alten Freundin Verena entpuppt sich auch nicht als besonders erquicklich, weshalb Alex der Einladung nach Italien gern folgt. 
Bei intensiven Gesprächen über das Leben, die Liebe, den Tod und die Zukunft kommen sich Alex und Johann schnell näher. Und dann beschließt Johann, ein Portrait von Alex zu malen. 
„Am Ende soll sie sich, ohne das abweisen zu können, erkennen, und sie soll erstaunt sein, beides, beides zugleich. Er muss, auch wenn das bei der möglichst getreuen Darstellung des Äußeren paradox klingt, in die Tiefe vordringen. Kurz gesagt: Er will Schönheit. Ein Übersetzer sein. In den Fluss springen, Risiko.“ (S. 161) 
Während der Mönch Lukas in „Aus der Mitte des Sees“ noch in der Mitte des Lebens stand, um eine Entscheidung über sein Leben für Gott oder in der Welt dort draußen zu treffen, stehen Alex und Johann in Hegers Zweitwerk „Die Zeit der Zikaden“ an einem weit späteren Wendepunkt in ihrem jeweiligen Leben und müssen sich darüber klar werden, wie sie ihre Zeit nach einem mehr oder weniger erfüllenden Arbeitsleben verbringen wollen.  
Heger reduziert die Handlung dabei aufs Wesentliche, konzentriert sich vielmehr auf die Inneneinsichten seiner beiden Hauptfiguren und baut die Spannung eher durch die tiefsinnigen Dialoge zwischen Alex und Johann auf. „Du tust mir gut“, sagt Johann schon auf der Hochzeitsfeier seines Sohnes, später dann: „Du hast mich entkorkt.“ 
Es ist die Art der Fragen, des Zuhörens, der Antworten, mit der sie mehr über den jeweils anderen, aber auch über sich selbst und schließlich über die Beziehung zueinander erfahren. Heger lässt Alex und Johann in Gedanken immer wieder in die Vergangenheit abschweifen, um die jeweilige Persönlichkeit herauszukristallisieren und so den Boden zu bereiten für die neuen Wege, die sie vielleicht in diesem traumhaft schönen Landstrich zu beschreiten wagen. Die eindringliche Sprache, die gelungene Figurenzeichnung und der gesellschaftsreflektierende Ansatz machen „Die Zeit der Zikaden“ zu einem anregenden und einfühlsamen Sommerroman. 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Fünf“

Samstag, 22. Juni 2024

(Diogenes, 258 S., Tb.) 
Für Philippe Djians auf sechs Bände angelegte und insgesamt gut 1600 Seiten umfassende literarische Soap „Doggy Bag“, die der französische Erfolgsautor („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Verraten und verkauft“) zwischen 2005 und 2008 entwickelt hat, braucht die geneigte Leserschaft ab dem vierten Band ein ebenso großes Durchhaltevermögen wie die Protagonisten seiner von allerlei amourösen Verstrickungen geprägten Geschichte. 
Viel verändert hat sich nach dem Auftaktband nämlich nicht. Die Brüder Marc (41) und David Sollens (42) haben das Autohaus ihres 71-jährigen Vaters Victor übernommen, mit dem wegen des Alters und des Todes beunruhigten Familienoberhaupt allerdings gebrochen, seit er wegen einer anderen Frau ihre Mutter Irène verlassen hat. Dass er jetzt reuig zu ihr zurückkehren will, lässt die mit ihren 63 Jahren nach wie vor attraktive Frau nicht ganz unberührt, auch wenn sie ausgerechnet auf der Hochzeit ihres Sohnes David mit der angeblich schwangeren Krankenschwester Josianne mit einem Handwerker geschlafen hatte, um von dem Mann anschließend entführt und vergewaltigt zu werden. 
Zwar lässt sie Victor seitdem wieder in ihrem Haus schlafen, bereut es allerdings, mit ihm hin und wieder auch Sex mit ihm gehabt zu haben. Um nicht bei dem Werben ihres Mannes, der nun den Glauben an Gott wiedergefunden zu haben scheint, weich zu werden, stürzt sie sich in eine Affäre mit dem Polizeichef Olivier de Watt. Dramatisch verläuft der Ausflug mit einem Bus, den Victor der Gemeinde von Pater Joffrey gestiftet hat. Nachdem das Gefährt in einer entlegenen Gegend vom Weg abgekommen ist, macht sich ein riesiger Bär über die Passagiere her und tötet u.a. Victors Privatsekretärin Valérie. 
Während David nach seinem tödlichen Messerangriff auf Joël, dem Freund von Marc und Édiths Tochter Sonia, auf seine Freilassung aus einer psychiatrischen Klinik hofft, hilft auch Marc Teilnahme an den Treffen der Anonymen Sexaholiker nicht darüber hinweg, dass Marc nach wie vor jeder Frau nachsteigt. Dabei liebt er Édith über alles und macht ihr sogar einen Heiratsantrag. 
„Unter solchen Bedingungen zu bumsen hatte natürlich seinen Reiz, und man konnte durchaus verstehen, dass sich ein Mann, der keinerlei sozialen oder familiären Zwängen unterworfen war, entgegen allen Regeln des Anstands hemmungslos der Sache hingeben konnte. Aber doch nicht ein ehrenwerter Bürger, nicht ein Mann, der ein Geschäft in der Stadt hatte, nicht ein Mann, der Beziehungen zum Bürgermeister hatte, nicht ein Mann, der im Begriff war, eine Familie zu gründen. O nein, ganz gewiss nicht!“ (S. 175) 
Die Probleme werden auch nicht dadurch weniger, dass Victor nach Davids hoffentlich nur vorübergehendem Ausscheiden aus der Firma wieder kräftig mitmischt im Autohaus… 
Mit dem unerwartet brutal beendeten Busausflug beginnt der fünfte „Doggy Bag“-Band äußerst dramatisch, doch den Rest der Geschichte nehmen wie gewohnt die angebahnten oder vollzogenen Liebesabenteuer ihren Lauf, wobei Irènes Affäre mit dem Polizeichef ebenso für Wirbel sorgt wie die Liebelei, die die zwanzigjährige Sonia ausgerechnet mit Roberto, dem Jugendfreund von Marc, David und Édith unterhält. Da die Figuren in „Doggy Bag“ allesamt nicht das Zeug zu Sympathieträgern haben, muss man als Leser schon das irrwitzige Wechselbad der Gefühle lieben, das nahezu alle Beteiligten auch in Teil 5 der literarischen Soap durchleben. 

 

Michael Crichton & James Patterson – „Eruption“

(Goldmann, 492 S., HC) 
Vor allem durch seinen 1993 erfolgreich von Steven Spielberg verfilmten Roman „Jurassic Park“ ist der 2008 verstorbene Schriftsteller, Drehbuchautor und Produzent Michael Crichton bekannt geworden. Dabei lieferte Crichton bereits seit 1971 – als Roman- und/oder Drehbuchautor - die Vorlagen für Filme wie „Andromeda: Tödlicher Staub aus dem All“, „Westworld“, „Coma“, „Der erste große Eisenbahnraub“, „Die Wiege der Sonne“, „Enthüllung“, „Twister“, „Der 13. Krieger“, „Sphere – Die Macht aus dem All“ und vor allem für die Fernsehserie „Emergency Room“
Sein Manuskript zu dem Vulkan-Thriller mit dem Arbeitstitel „The Black Zone“ konnte er allerdings aufgrund seiner tödlichen Krebserkrankung nicht mehr vollenden. Auf der Suche nach einem kongenialen Co-Autor, der das Werk vollenden könnte, stieß Crichtons Witwe Sherri Crichton schließlich auf den Bestseller-Autor James Patterson, der selbst bereits sehr routiniert mit der Arbeit mit Co-Autoren ist. So entstanden in den letzten Jahren beispielsweise Romane mit dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton und der Country-Legende Dolly Parton
Während Naturkatastrophen für Crichton vertrautes Terrain gewesen sind, betritt „Alex Cross“-Schöpfer James Patterson mit „Eruption“ Neuland, gilt es doch, auf Hawaii einen nie dagewesenen Vulkanausbruch in den Griff zu bekommen. 
Der 36-jährige Dr. John „Mac“ MacGregor, ein geschiedener, wagemutiger wie eigensinniger Wissenschaftler des Hawaiian Volcano Observatory (HVO), steht vor der schwersten Aufgabe seiner Karriere. Gerade als er ein paar Problemjugendlichen am Strand von Big Island eine Surfstunde erteilt, erschüttert ein Beben die Insel, wenig später erhält Mac die Nachricht von seiner Assistentin Jenny Kimura, dass eine Entgasung aufgezeichnet wurde, die im weiteren Verlauf der Untersuchungen darauf hinweist, dass der Mauna Loa, der größte aktive Vulkan der Erde, in nur wenigen Tagen ausbrechen wird. Als wäre diese Information nicht schon beunruhigend genug, werden Mac und sein Team mit der Tatsache konfrontiert, dass unterhalb des Vulkans vom Militär in einer Lavaröhre Behälter mit einer tödlichen Substanz namens „Agent Black“ gelagert werden, die – sollte sie freigesetzt werden – einen Großteil des Lebens auf der Erde vernichten könnte. Zusammen mit Colonel Briggs von der Army und teils überaus prominenten Experten versuchen Mac und seine Leute zu verhindern, dass die Lavamassen die ganze Insel zerstören und die Chemikalien massive Auswirkungen auf die ganze Welt hervorrufen…
„Je näher sie dem Kraterrand kamen, desto größer wurde Macs Bedürfnis, stehen zu bleiben und sich in Gipfelnähe umzusehen. Wie immer war er überwältigt von der Vorstellung, dass dieser vulkanische Berg fast die Hälfte der Insel einnahm, und von der wahrhaftigen Schönheit der Natur und ihrer potenziell zerstörerischen Wildheit. Doch der große Countdown lief weiter.“ (S. 215) 
Offensichtlich sind Michael Crichtons Notizen und Recherchen zum Thema Vulkanausbruch umfangreich genug gewesen, dass James Patterson ein glaubwürdiges Szenario kreieren konnte, denn „Eruption“ wartet mit allem auf, was es für einen packenden Thriller braucht. Auch wenn Patterson recht schlampig bei der Charakterisierung seiner Figuren umgeht und nur die nötigsten Informationen zum Hintergrund seines Protagonisten Mac bereitstellt – das umfangreiche Arsenal an Nebenfiguren bleibt bis auf wenige Ausnahmen recht konturlos und eindimensional -, schafft es Patterson, das bedrohliche Szenario von Beginn an sukzessive zu dramatisieren und durch die militärische Komponente eine Dimension zu implementieren, die dem vorausgesagten Vulkanausbruch auch eine weltumspannende Wirkung verleiht. Die Handlung verläuft allerdings in sehr vorhersehbaren Bahnen, doch das packende Thema, der flüssige Schreibstil und die kurzen Kapitel machen „Eruption“ auch für ein Publikum interessant, das einfach konstruierte Geschichten in unauffälliger Sprache zu schätzen vermag.  

Cormac McCarthy – „Der Passagier“

Montag, 17. Juni 2024

(Rowohlt, 526 S., HC) 
Mit preisgekrönten, u.a. mit dem Faulkner Award, dem American Academy Award, dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award und dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Romanen wie „Die Abendröte im Westen“, „Kein Land für alte Männer“ und „Die Straße“ zählte Cormac McCarthy bis zu seinem Tod im Jahr 2023 im Alter von fast neunzig Jahren zu den bedeutendsten zeitgenössischen Autoren des englischsprachigen Amerikas. Nach dem erfolgreich verfilmten Meisterwerk „Die Straße“ blieb es aber sechzehn Jahre ruhig um den versierten Schriftsteller, ehe er ein Jahr vor seinem Tod die beiden zusammenhängenden Romane „Der Passagier“ und „Stella Maris“ über ein offensichtlich inzestuöses Geschwisterpaar mit außergewöhnlichen naturwissenschaftlichen Talenten veröffentlichte. Während das um die Hälfte kürzere „Stella Maris“ die Geschichte aus der Perspektive der begnadeten, aber leider psychisch labilen Mathematikerin Alicia erzählt, führt uns zunächst ihr Bruder Bobby Western in die ungewöhnliche Familiengeschichte ein. 
Als sich der Bergungstaucher Bobby Western im Jahr 1980 mit seinem Kumpel Oiler bei Pass Christian in Mississippi eine abgestürzte Jet Star untersucht, entdeckt er, dass nicht der Flugschreiber fehlt, sondern auch der zehnte Passagier. 
Wenig später wird Western von zwei Männern mit geheimnisvollen Dienstausweisen in die Mangel genommen. Nachdem auch er auch seine Wohnung durchwühlt vorfindet, entschließt sich Western, sich auf den Weg zu seiner Schwester Alicia zu machen, die in Wisconsin in einem Sanatorium untergebracht war. Da der mysteriöse Geheimdienst auch Westerns Auto, Bankschließfach und Konten eingesackt hat, gestaltet sich Westerns Reise problematisch. 
Er sucht seine alten Kumpels auf und versucht sich einen Reim darauf zu machen, was die Tätigkeit seines Vaters, der als Forscher mit Oppenheimer zusammengearbeitet hat und so mitverantwortlich für die Toten von Hiroshima und Nagasaki war, und der von der Mathematik besessene Geist seiner Schwester mit seinem eigenen Leben zu tun hat. 
„Wer bin ich, was bin ich, wo bin ich. Aus welchem Stoff ist der Mond geprägt. Wie lautet der Plural von Durst. Wo finde ich einen guten Grill. Ich suche nach Schwachstellen in deiner Haltung. Abgesehen von den offensichtlichen eines Nichtteilnehmers. Wie Jimmy Anderson sagt: Das Einzige, was schlimmer ist, als zu verlieren, ist, nicht zu spielen. Ich muss sagen, dass die meisten Schrecknisse zumindest lehrreich sind, aber bei Frauen lernt man überhaupt nichts. Woran liegt das? Ich weiß, ich bin mit dieser Überzeugung nicht allein. Besteht der Zweck von Schmerz nicht in der Belehrung? Tja, darauf ist gepisst.“ (S. 414) 
Cormac McCarthy macht es seiner Leserschaft nicht leicht. Die meisten Kapitel von „Der Passagier“ werden mit kursiv gedruckten Episoden eingeleitet, in der ein junges Mädchen mit einem sie hartnäckig verfolgenden Zwerg merkwürdige Gespräche führt, die – wie sich später herausstellt – Gedankenspiele der schizophrenen Alicia sind. 
Den Kern der Geschichte macht allerdings die unter schwierigsten Bedingungen vollzogene Reise von Bobby Western aus, wobei das Rätsel des verschwundenen Passagiers eine Krimihandlung einleiten könnte, die allerdings nicht weiterverfolgt wird. Stattdessen rücken die Begegnungen in den Mittelpunkt, die Bobby Western nach seiner erzwungenen Flucht unterwegs macht. 
Dabei werden Entdeckungen im Bereich der Physik ebenso ernsthaft und – leider auch unnötig ausführlich – diskutiert wie die Theorie, wie John F. Kennedy wirklich ermordet worden ist. Die Erbschuld, die Western durch die Tätigkeit seines Vaters mit sich trägt, dringt dabei immer wieder durch, ebenso die Verzweiflung, mit der sich seine Kumpels durch das Leben schlagen. 
So brillant McCarthy einmal mehr mit der Sprache umgeht, so verworren kommt doch der Plot mit seinen unzähligen Nebenfiguren und den lamentierenden Gesprächen rüber. „Der Passagier“ ist vielleicht McCarthys am wenigsten zugängliches Werk und wird deshalb wohl auch nicht so ins kulturelle Gedächtnis eingehen wie seine früheren, zurecht preisgekrönten Romane. 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Vier“

(Diogenes, 256 S., TB.) 
Nach mehr als zwanzig Jahren im Schriftsteller-Geschäft war es für den französischen Erfolgsautor Philippe Dijan („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Verraten und verkauft“) offensichtlich Zeit, mal was Neues auszuprobieren. Also schuf er zwischen 2005 und 2008 seine literarische, sechs Bände umfassende Soap „Doggy Bag“, mit der er versuchte, passionierte Serien-Junkies, die kein oder kaum ein Buch in die Band nehmen, zum Lesen zu animieren. Die Geschichte um die beiden Brüder Marc und David Sollens und ihre nach zwanzig Jahren heimgekehrte beiderseitige Geliebte Édith nahm zwei Bände lang eine turbulente Entwicklung, kam im dritten Band aber schon etwas aus der Puste. 
Marc versucht nach einem Ausrutscher, seine Sexsucht in den Griff zu bekommen, und schließt sich den Anonymen Sexaholikern an. Édith dankt es ihm, muss sie doch nur noch morgens, abends und ein-, zweimal am Tag ran, Marc seinen Trieb abreagieren zu lassen. Seinem Bruder David gelingt es dagegen nicht mal halbwegs souverän, die Herausforderungen in seinem Leben zu meistern, ersticht er in einem Tobsuchtsanfall doch den 25-jährigen Joël, den im Rollstuhl sitzenden Freund von Édiths Tochter Sonia. Die gerade mal zwanzigjährige Sonia wiederum lässt sich mit Roberto, dem 42-jährigen Jugendfreund von Marc, David, Édith und Catherine Da Silva, ein, was nicht gerade Begeisterungsstürme in Robertos früherer Clique hervorruft. 
Marcs und Davids Vater Victor hadert nicht nur mit dem Umstand, dass ihn seine Söhne als Verräter betrachten, sondern auch mit dem Umstand, dass seine acht Jahre jüngere Frau Irène keine Anstalten macht, ihn wieder näher an sich heranzulassen, obwohl er immerhin wieder in ihrem Haus wohnen darf. Und schließlich hat Édiths Ex-Mann Paul hart damit zu kämpfen, dass Édith und Sonia nicht mehr Teil seines Lebens sind und sich eine neue Beziehung angesichts seiner von starkem Mundgeruch begleiteten Zahnprobleme nicht so recht anbahnen will. 
„Niemand war perfekt. Er fuhr mit dem Finger die Mulde entlang, die ihre Hüfte bildete. Er forderte nur ein, was ihm zustand, mehr nicht. Jeder Mensch hatte Anrecht auf seinen Anteil am Gewinn, und wenn manche darauf verzichteten, dann war das ihre Sache, wenn manche lieber auf den Knien herumrutschten, war das ebenfalls ihre Sache. Wenn Sylvie sich ihm noch lange verweigerte, würde er am gleichen Ort landen wie David. Er bewunderte so viel Macht. Innerlich stieß er einen wohligen Seufzer aus. Das Phänomen an sich war faszinierend. Man könnte ein Buch darüber schreiben – allerdings würde nicht er es schreiben.“ (S. 234f.) 
Wie in einer Daily Soap im Fernsehen lässt auch Philippe Djian in seiner literarischen Soap „Doggy Bag“ genüsslich die Puppen tanzen, wenn es um die zwischenmenschlichen Beziehungen von Paaren, Freunden und Verwandten angeht. Fast hat es den Anschein, als wären die Männer in „Doggy Bag“ allesamt vor allem triebgesteuert, und wenn sich der Sexualtrieb mal dorthin verirrt, wo er ganz sicher nicht hingehört, steuern die Betroffenen geradewegs auf eine Katastrophe zu. Das ist durchaus kurzweilig und amüsant, wartet aber auch mit etlichen geschwätzigen Längen auf, die die Lust auf eine Fortsetzung im Rahmen halten. 

 

Stephen King – „Ihr wollt es dunkler“

Sonntag, 9. Juni 2024

(Heyne, 736 S., HC) 
Obwohl Stephen King das ausschweifende Format das epischen Romans bevorzugt, um seine Leserschaft mit seinen Geschichten zu fesseln, sind seit Beginn seiner außergewöhnlich erfolgreichen Schriftstellerkarriere immer wieder Sammlungen von Kurzgeschichten erschienen, die ihren ganz eigenen Reiz verströmten – nicht zuletzt für die Filmstudios in Hollywood, die bereits aus Kings erstem, schon 1978 veröffentlichten Sammelband „Night Shift“ ausgewählte Short Stories wie „Manchmal kommen sie wieder“, „Der Rasenmähermann“ und „Kinder des Mais“ zu mehr oder weniger gelungenen Langfilmen verarbeiteten. Bekanntere Beispiele aus späteren Sammlungen sind natürlich „Die Leiche“ (von Rob Reiner unter dem Titel „Stand By Me“ verfilmt) und „Der Nebel“
Neun Jahre nach der letzten Kurzgeschichtensammlung, „Basar der bösen Träume“, ist es nun wieder Zeit für neue Geschichten, die mal zwischen zehn und vierzig Seiten lang sind, gelegentlich aber auch das Ausmaß eines Kurzromans einnehmen. Auf jeden Fall beackert der „King of Horror“ in den zwölf Geschichten in „Ihr wollt es dunkler“ ganz unterschiedliche Sujets und erzeugt ebenso verschiedenartige Stimmungen. 
Eröffnet wird der Reigen mit „Zwei begnadete Burschen“, in der der Sohn eines berühmten, kürzlich verstorbenen Schriftstellers der Frage nachgeht, die auch die Journalistin Ruth Crawford seit einigen Jahren umtreibt: Laird und sein Jugendfreund David „Butch“ LaVerdiere haben nie das Potenzial erkennen lassen, dass aus ihnen irgendwann mal etwas Besonderes werden sollten, und doch sind sie mit einem Schlag in ihren Mittvierzigern berühmt geworden, Laird als Schriftsteller, Butch als Maler. Laird hat Zeit seines Lebens zwar die obligatorischen Interviews absolviert, aber nie Auskunft über den wundersamen Verlauf seiner Karriere gegeben. Erst mit seinem Tod bekommt sein Sohn den Zugang zum Ursprung des „göttlichen Funkens“, der die kreativen Wurzeln der beiden Freunde während eines Jagdausflugs freisetzen sollte… 
In „Der fünfte Schritt“ präsentiert sich King als typischer Horror-Autor, wenn er den Rentner Harold Jamison bei seinem täglichen Spaziergang in den Central Park mit einem normal aussehenden Mann zusammentreffen lässt, der als Alkoholiker gerade die Zwölf Schritte bei den AA durchläuft. Für den jetzt anstehenden fünften Schritt soll der Mann, der sich als Jack vorstellt, einem Fremden von seinen Fehlern erzählen. Jamison lässt sich darauf ein, nicht ahnend, was er mit seinem Einverständnis auslöst… 
Mit „Danny Coughlins böser Traum“ folgt der erste Kurzroman. Die Titelfigur träumt davon, in der Nähe einer „Hilltop Texaco“-Tankstelle einen Hund zu entdecken, der erst eine Hand, dann den dazugehörigen Unterarm aus dem Boden freischarrt. Der Traum ist so real, dass Coughlin sich auf den Weg macht und tatsächlich die teilweise freigelegten Körperteile findet. Doch als er anonym die Polizei informiert, erlebt er sein blaues Wunder. Denn Inspector Franklin Jalbert vom Kansas Bureau of Investigation ist fest davon überzeugt, dass Coughlin den Fund der Leiche von Yvonne Wicker nicht nur geträumt hat, sondern die junge Frau auch selbst ermordet hat. Um das zu „beweisen“ greift Jalbert auch zu unlauteren Mitteln, stellt sich mit seinen Praktiken und Überzeugungen aber auch zunehmend selbst ins Abseits… 
„In meinen Geschichten über das Übernatürliche und Paranormale habe ich mir besonders große Mühe gegeben, die reale Welt so zu zeigen, wie sie ist, und die Wahrheit über das Amerika zu erzählen, das ich kenne und liebe. Manche solcher Wahrheiten sind hässlich, aber wie es in einem Gedicht heißt, werden Narben zu Schönheitsflecken, wo Liebe ist“, schreibt Stephen King im Nachwort zu „Ihr wollt es dunkler“ – einer Hommage an Leonard Cohen
Tatsächlich bekommt Kings Publikum wie so oft in seinen Geschichten den Spiegel vorgehalten, taucht der „King of Horror“ doch immer wieder tief ins kollektive Unterbewusstsein ein, lässt Träume und Erinnerungen lebendig werden, thematisiert Krankheit, Tod und mehr oder weniger schleichenden Wahnsinn. So macht Vic Trenton, der Ich-Erzähler in dem anderen Kurzroman, „Klapperschlangen“, und darüber hinaus auch der Vater des Jungen, der in „Cujo“ einem tollwütigen Bernhardiner zum Opfer gefallen war, die Bekanntschaft einer Frau, die über den Tod ihrer vierjährigen Zwillinge nie hinweggekommen ist und den Kinderwagen mit ihren T-Shirts durch die Gegend kutschiert, als wären die Jungs noch am Leben. 
Nicht alle Geschichten erreichen die Intensität, die die beiden Kurzromane auszeichnet, aber doch die meisten.  

John Wray – „Unter Wölfen“

Sonntag, 2. Juni 2024

(Rowohlt, 480 S., HC) 
John Wray ist das Pseudonym des 1971 in Washington, D.C., geborenen John Henderson, und als Sohn einer Österreicherin ist er nicht nur zweisprachig aufgewachsen, sondern verbringt noch immer so viel Zeit im Kärtner Haus seiner Großeltern, dass er seinen 2021 veröffentlichten Erzählband „Madrigal“ sogar auf Deutsch geschrieben hat. Nun ist mit „Unter Wölfen“ sein neues Werk erschienen, das im weitesten Sinne einen Entwicklungsroman in der Death-Metal-Szene darstellt. 
Ende der 1980er Jahre fühlt sich Leslie „Z“ Vogler in dem Florida-Städtchen Venice wie ein prototypischer Außenseiter. Er ist nicht nur schwarz, sondern obendrein noch bisexuell und ein Fan von Hanoi Rocks. Als würde das noch nicht genügen, läuft er in Glam-Klamotten herum, als hätte er noch nicht mitbekommen, dass Glamrock out und Death Metal in sei. 
An der Venice High lernt er Christopher Chanticleer „Kip“ Norvald kennen, der wegen seiner desaströsen Familienverhältnisse in einer bewachten Wohnanlage bei seiner Oma Oona lebt und bei Leslies Vorspielen einer Hanoi-Rocks-Platte erstmals vom „Self Destruction Blues“ hört. Dieser Blues zieht sich fortan wie ein Leitfaden durch das Leben von Kip, Leslie und Kira Hetfield, der dritten Außenseiterin im Bunde. Kira lebt mit ihrem übergriffigen Vater in einem Trailer und kennt sich in der Death-Metal-Szene aus wie niemand sonst. Als sie den Alltagsmist mit psychischen und Schul-Problemen, mit homophoben wie sexuellen An- und Übergriffen nicht mehr ertragen, wollen die drei jungen Metal-Addicts nur noch weg, ab nach Los Angeles, in die Hauptstadt ihrer geliebten Musik, mit den coolsten Clubs und angesagtesten Bands. Doch der Aufenthalt dort entpuppt sich als weitere Sackgasse auf dem Weg zur absoluten Erkenntnis, der allumfassenden Wahrheit. 
Zwar macht sich Kip langsam einen Namen als Kolumnist für verschiedene Metal-Fanzines und -Magazine, doch muss er auf schmerzliche Weise erkennen, dass seine Schwärmerei für Kira wohl nicht erwidert wird. Als sie allerdings verschwindet und ihre Spur nach Skandinavien führt, machen sich Kip und Leslie auf die Suche nach ihr, bis sie auf einen mysteriösen Todeskult stoßen, der Schlimmes befürchten lässt… 
„Sie hatten so spektakulär versagt, sie alle drei. Die Distanz zwischen dem Leben, das sie sich in groteskem California Technicolor ausgemalt, und dem, das sie tatsächlich vorgefunden hatten, war so riesig wie das Land, durch das sie im Kthulhu gefahren waren. Aber der Grund für ihr Scheitern war nie Kalifornien gewesen, die Stadt Los Angeles oder der Strip in seiner ganzen Verdorbenheit. Sie selbst waren der Grund gewesen. Ihr Egoismus, ihre Unreife, ihre Schwäche. Sie waren Hinterwäldler aus dem mittleren Florida, daran würde sich nie etwas ändern.“ 
Man muss kein Metal-Fan sein, um John Wrays neuen Roman „Unter Wölfen“ lesen und auch genießen zu können, denn Death Metal dient hier letztlich nur als eine Möglichkeit von vielen, mit denen sich Jugendliche und junge Erwachsene aus der desillusionierenden Welt des Hochkapitalismus Ende der 1980er Jahre ausgeklinkt haben. Dass Wray selbst früher Musiker in einer Rockband gewesen ist, gestaltet den Zugang zu dieser Szene allerdings einfacher, denn der Autor versteht es auch für den Laien sehr gut, das herauszuarbeiten, was die Metal-Szene mit ihren verschiedenen Subgenres ausmacht, und er transportiert auch die Emotionen seiner drei Protagonisten so anschaulich, dass sie einem beim Lesen trotz ihrer vielleicht fremdartig anmutenden Geisteshaltung schnell ans Herz wachsen. 
Wray versteht es, die Verzweiflung, die innere Leere, die Suche nach einem tieferen Sinn im Leben dieser jungen Menschen nicht zuletzt durch seine bildliche Sprache und großartigen Dialoge einzufangen, die so einzigartig wie die Figuren sind, die sie sprechen. Wie tief dieser Self Destruction Blues einwirkt, wird den Beteiligten spätestens in den abgelegenen Gegenden in Skandinavien vor Augen geführt, als Kip die Bekanntschaft des geheimnisvollen Euronymous und einer sektenähnlichen Vereinigung macht. 
Mit dem skandinavischen Teil bewegt sich der Autor eher auf den Pfaden eines dämonischen Mystery-Thrillers und führt den in Venice und Los Angeles begonnen Weg seiner drei Hauptfiguren konsequent zu Ende. 
Einmal mehr beweist John Wray sein Gespür für die verschrobene, gekränkte Psyche ausgegrenzter Menschen und lässt bei aller brutaler Gewalt und Härte doch auch immer wieder zärtliche, gefühlvolle Momente zu.  

Philippe Djian – „Doggy Bag – Drei“

Sonntag, 26. Mai 2024

(Diogenes, 262 S., Tb.) 
Als Philippe Djian in seiner französischen Heimat zwischen 2005 und 2008 seine literarische, sechs Bände umfassende Soap „Doggy Bag“ veröffentlichte, bestand seine erklärte Absicht darin, passionierte Serien-Junkies, die kein oder kaum ein Buch in die Band nehmen, zum Lesen zu animieren. Schließlich sei er der Überzeugung, dass man das menschliche Innenleben mit Worten viel besser beschreiben könne als mit Bildern. 
Ob dieses Ansinnen Erfolg hatte, darf arg bezweifelt werden, der Versuch bleibt indessen mehr als löblich. Für Djian-Fans, die mit Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“ und „Verraten und verkauft“ groß geworden sind, bietet die sechsteilige Soap in Romanform viel Bekanntes, doch geht der Geschichte bereits im dritten Band allmählich die Luft aus. 
Die beiden Brüder David und Marc Sollens waren jeweils Anfang zwanzig, als sie sich in die schöne Édith verliebt und mit ihr geschlafen haben, doch für Édith erwies sich dieses Arrangement als nicht besonders tragbar, weshalb sie damals mit einem Gelegenheits-Lover das Weite suchte. Nach zwanzig Jahren kehrte Édith nun zurück – mit ihrer zwanzigjährigen Tochter Sonia im Schlepptau, von der sowohl Marc als auch David der Vater sein könnte. 
Die Brüder haben mittlerweile das Autohaus ihres Vaters Victor übernommen, der sich enthusiastisch seiner gerade erst entdeckten Enkelin annimmt, aber ein schwieriges Verhältnis sowohl zu seinen beiden Söhnen als auch zu seiner Frau Irène unterhält. Die hatte während der Hochzeit ihres Sohnes David mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne nichts besseres zu tun, als mit einem Tischler in dessen Lieferwagen zu schlafen und anschließend von ihm entführt und misshandelt zu werden. Der dritte Band beginnt mit der fieberhaften Suche nach Irène, und ausgerechnet ihr betrogener Ehemann Victor hat eine Eingebung, wo sie zu finden sei. 
Nach Irènes Rettung sind die Dinge allerdings alles andere als im Lot. Die Gemeinde hat mit den schwerwiegenden Folgen einer Überschwemmung zu kämpfen, die auch das Autohaus der Sollens-Brüder in Mitleidenschaft gezogen hat. David, der Josianne vor allem geheiratet hat, weil sie ihm glaubhaft vermittelte, dass sie schwanger sei, muss herausfinden, ob er seine Frau auch aus anderen Gründen geehelicht hat, wohingegen Édith, die nun mit Marc zusammengezogen ist, unter dessen Sexbesessenheit zu leiden beginnt. Schließlich hat die Redakteurin der Zeitschrift „City“ bereits einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich… 
„Sie traf nach Einbruch der Dunkelheit bei sich zu Hause ein. Marc lag schon im Bett und schlief. Sie setzte sich auf die Bettkante und holte ihm, ohne ihn zu wecken, einen runter – eine Schachtel Kleenex in Reichweite. Dann legte sie sich im Halbdunkel neben ihn. Dank dieser List hatte sie gute Chancen, eine ruhige Nacht zu verbringen – theoretisch würde sich vor Tagesanbruch nichts mehr abspielen. Sie wollte nur still neben ihm liegen bleiben und im Dunkeln an die Decke starren.“ (S. 156) 
Nachdem die ersten beiden „Doggy Bag“-Bände voller Action, Sex und Verwirrungen angesichts der überraschenden Rückkehr von Marcs und Davids früherer Geliebten waren, hat sich die Aufregung im dritten Band etwas gelegt. Die Beziehungen zwischen den Protagonisten sind zwar weiterhin problematisch, doch haben sich mittlerweile einige feste Bindungen ergeben. 
Für Aufregung sorgt vor allem die Überschwemmung und Marcs auch von den Medien ausgeschlachtetes Heldentum, nachdem er ein Mädchen vor dem Ertrinken gerettet hatte. Sprachlich bewegt sich „Doggy Bag – Drei“ nach wie vor auf hohem Niveau, aber der Plot hat viel von seiner Faszination verloren und zieht sich durch eine markante Geschwätzigkeit gerade in den Dialogen ganz schön in die Länge. Immerhin endet das Buch wieder mit einem Paukenschlag.


Jeffery Deaver – (Colter Shaw: 4) „Rachejäger“

Samstag, 25. Mai 2024

(Blanvalet, 512 S., HC) 
Auch wenn der ehemalige Folksänger und Rechtsanwalt Jeffery Deaver bereits Ende der 1980er Jahre seine ersten Thriller veröffentlichte, nahm seine Karriere doch erst mit dem Beginn der Reihe um den fast vollständig gelähmten Forensik-Experten Lincoln Rhyme an Fahrt auf, vor allem seit Phillip Noyce den ersten Teil der Reihe, „The Bone Collector“, 1999 mit Denzel Washington und Angelina Jolie erfolgreich verfilmte. 
Neben der mittlerweile fünfzehn Bände umfassenden Reihe um Lincoln Rhyme sind in den vergangenen Jahren weitere lesenswerte Reihen entstanden, so um die Verhörspezialistin Kathyrn Dance und um den Prämienjäger und Überlebensexperten Colter Shaw. Mit „Rachejäger“ ist gerade der vierte Band der Reihe erschienen. 
Colter Shaw wird von Marty Harmon, Chef des in Ferrington ansässigen Technologieunternehmens Harmon Energietechnik, damit beauftragt, den Diebstahl eines bahnbrechenden technischen Bauteils zu verhindern, das von der 42-jährigen Ingenieurin Allison Parker entwickelt worden ist. Mit der Hilfe der attraktiven Sicherheitsexpertin Sonja Nilsson gelingt es Shaw, den Dieb zu identifizieren und durch einen Trick die echte Baueinheit gegen eine Attrappe einzutauschen und so eine Spur zum potenziellen Käufer aufzunehmen. Zur gleichen Zeit wird der ehemalige Cop Jon Merritt vorzeitig aus der Haftanstalt in Trevor County entlassen, nachdem ihn seine Ex-Frau, eben jene Allison Parker, beschuldigt hatte, sie mit einer tödlichen Waffe bedroht zu haben, weshalb er wegen schwerwiegender Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. 
Als Allison Parker von der vorzeitigen Entlassung ihres Ex-Mannes erfährt, packt sie sofort ein paar Sachen für sich und ihre sechzehnjährige Tochter Hannah und verschwindet – gerade noch rechtzeitig, bevor Jon Merritt sie ausfindig macht. Marty Harmon beauftragt Shaw nun, auch seine wertvollste Mitarbeiterin zu suchen. Wie er von Allisons Anwalt erfahren habe, wisse Allison Dinge aus Jons Vergangenheit, die er unbedingt unter Verschluss halten wolle. 
Während Shaw und Nilsson sich auf die Suche nach den beiden Parker-Frauen macht, bekommen sie auch noch mit zwei Auftragskillern zu tun, die es offenbar ebenfalls auf Allison abgesehen haben. Ein unbedachtes Selfie von Hannah bringt Shaw auf die Spur von Allison und ihrer Tochter, allerdings erhalten auch Merritt und die Killer so Kenntnis von ihrem Zufluchtsort… 
Mit der Colter-Shaw-Reihe hat der US-amerikanische Bestsellerautor Jeffery Deaver das Kunststück vollbracht, einige – im Vergleich zu den etwas komplexer konstruierten Thriller um Lincoln Rhyme – leicht zu lesende und dennoch faszinierende, spannende Werke zu kreieren, die vor allem von dem interessanten Protagonisten leben. 
Zwar ist es für das Verständnis von „Rachejäger“ nicht zwingend erforderlich, auch die vorherigen drei Bände „Der Todesspieler“, „Der böse Hirte“ und „Vatermörder“ zu kennen, sind sie für den Hintergrund von Colter Shaws Vita gerade in Bezug auf die ungewöhnliche familiäre Geschichte sehr hilfreich. In „Rachejäger“ wird die Art und Weise, wie Colter zusammen mit seinen beiden Geschwistern von seinem Vater angelernt worden ist, nur in gelegentlichen Flashbacks thematisiert. Wesentlich ist, dass Colter über ein profundes Wissen an Überlebenstechniken, das Benutzen verschiedenster Waffen, Orientierung und das Fallenstellen verfügt. Das verleiht auch dem Plot von „Rachejäger“ seine Glaubwürdigkeit. Auch wenn sich Deaver nicht allzu intensiv mit seinen Figuren auseinandersetzt, verleiht er ihnen doch genügend Profil, um seine Leserschaft gerade für Colter, Sonja Nilsson, Allison Parker und selbst Hannah einzunehmen, aber selbst die mehr oder weniger vermeintlichen Bösewichte bleiben nicht so eindimensional, wie man sie aus Hollywood-Thrillern kennt. 
Abgesehen von der an sich konventionell inszenierten Verfolgungsjagd reißt Deaver auch noch verschiedene andere Themen wie die Überlastung und Korruption in Polizeidienststellen, Industriespionage und Umweltverschmutzung an, ohne ihnen aber zu viel Aufmerksamkeit zu widmen. Deavers Thriller leben natürlich wie die seiner Kollegen von überraschenden Wendungen, doch begeben sie sich damit oft auf gefährliches Terrain, wenn diese zu konstruiert und nicht mehr glaubwürdig wirken. 
Deavers „Rachejäger“ schrammt gerade so an dieser Klippe vorbei und legt so einen flüssig geschriebenen Pageturner vor, der Lust auf mehr Abenteuer mit Colter Shaw macht. 

Thomas Harris – „Cari Mora“

Samstag, 18. Mai 2024

(Heyne, 336 S., HC) 
Ein Vielschreiber à la James Patterson, Stephen King, Jeffery Deaver, David Baldacci oder John Grisham ist Thomas Harris mit Sicherheit nicht. Ganz im Gegenteil: Zwischen seinem 1975 veröffentlichten Roman „Black Sunday“ und „Hannibal Rising“, dem 2006 veröffentlichten Prequel zur erfolgreichen „Hannibal Lecter“-Reihe, sind zwar mehr als satte dreißig Jahre vergangen, doch in der Zeit gerade mal die drei Romane der eigentlichen „Hannibal Lecter“-Trilogie erschienen, „Roter Drache“, „Das Schweigen der Lämmer“ und „Hannibal“. Harris darf sich nicht nur rühmen, dass er für „Das Schweigen der Lämmer“ nicht nur mit renommierten Preisen wie dem Bram Stoker Award, dem World-Fantasy-Award und dem Prix Mystère de la critique ausgezeichnet worden ist, sondern dass vom Erstling bis zu „Hannibal Rising“ auch alle Romane verfilmt worden sind, „Roter Drache“ sogar gleich zweifach. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an Harris‘ neuen Roman „Cari Mora“, für den sich der Bestseller-Autor mit dreizehn Jahren so viel Zeit ließ wie noch nie zuvor. 
Der komplett haarlose Deutsche Hans-Peter Schneider verfügt in vielerlei Hinsicht über einen exklusiven Geschmack. Momentan hat er es auf den Goldschatz abgesehen, den der Drogenbaron Pablo Escobar 1989 in seiner Villa an der Biscayne Bay in Miami Beach versteckt hat. Seit dessen Tod wird die Villa vor allem an Film-Crews vermietet, die vor allem die Szenerie mit Filmmonstern, Horrorfilmrequisiten, Jukeboxen, Sex-Möbeln und einem elektrischen Stuhl aus Sing Sing faszinierend finden, aber auch an Playboys und Immobilien-Spekulanten. 
Die 25-jährige Kolumbianerin wird dabei wegen ihrer ausgesprochenen Kenntnisse des Hauses oft als Haushüterin mitgebucht. Solange sie nur über eine Aufenthaltsgestattung verfügt, hält sich die frühere Kinderkriegerin entweder im Haus auf, wo sie sich um einen sprechenden Kakadu, anfallende Reparaturen und gelegentlich um das Catering kümmert, dazu hilft sie als Pflegerin in der Pelican Harbor Seabird Station aus. Um ihren Traum zu verwirklichen, Tierärztin zu werden, fehlt ihr nur die Aufenthaltsgenehmigung und das nötige Kleingeld für das Studium. Als Schneider es durch den Immobilienmakler Felix gelingt, mit seiner Crew vorzeitig in Escobars Villa zu gelangen, ist er noch dabei, dessen alten Weggefährten Jesús Villareal die Informationen abzukaufen, mit denen der geschickt gesicherte Safe geknackt werden kann, ohne dass Schneiders Truppe alles um die Ohren fliegt. Allerdings bleibt Schneider dem im kolumbianischen Barraquilla im Sterben Liegenden die letzte Rate schuldig, weshalb Villareal seine Informationen auch seinem Landsmann Don Ernesto verkauft. 
Als Ernesto, der in seiner Heimatstadt die Diebesschule Ten Bells betreibt, in Miami seine Diebesbande auf den Goldschatz in der Villa ansetzt, nimmt diese auch Kontakt zu Cari auf, die als Insiderin über wesentliche Informationen verfügt. Ernestos Konkurrent Schneider ist jedoch nicht nur an dem Schatz interessiert, sondern auch an der attraktiven Cari, die an den Armen für Schneider interessante Narben aufweist. Denn Schneider ist ein perverser Serienkiller, der Handel mit Frauen und ihren Organen betreibt, mit denen er die Gewaltfantasien einer steinreichen männlichen Klientel bedient… 
Statt eines neuen Hannibal-Lecter-Romans präsentiert Thomas Harris in seinem vielleicht schon letzten Roman einen neuen Serienkiller, doch gibt er sich keine Mühe, den deutschen Hans-Peter Schneider mit einer Hintergrundgeschichte auszustatten. Abgesehen davon, dass Schneider als Junge seine Eltern in einer Kühlkammer eingesperrt hat und ihre gefrorenen Leichen anschließend mit einer Axt in Kleinteile gehackt hat, erfährt man nicht viel aus dem bisherigen Leben des Schatzsuchers und Menschen- und Organhändlers. 
Das trifft allerdings auch – mit Einschränkungen - auf die eigentliche Hauptfigur, die titelgebende Cari Mora zu. Immerhin gewährt Harris hier einen Blick auf ihre Zeit als zwangsrekrutierte Kindersoldatin bei der FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia), was erklärt, warum sich Cari sehr gut mit Waffen auskennt und sich ihrer Haut zu erwehren versteht. Doch Harris fokussiert sich nicht auf das sich früh abzeichnende Duell zwischen Schneider und Cari, sondern lässt eine fast schon unübersichtliche Vielzahl von Nebenfiguren auftreten, die offenbar keiner näheren Beschreibung bedürfen und oft genug nur dazu dienen, Opfer brutale Tötungen zu werden. 
Harris vernachlässigt aber nicht nur seine Figuren, sondern sträflicherweise auch den Plot. Immer wieder wechselt er die Handlungsorte, Zeiten und Personen, so dass überhaupt kein Erzählfluss zustande kommt. Stattdessen bemüht er ausladende Vergleiche zwischen der Tierwelt und den Menschen, beschreibt ausführlich das Fressverhalten eines Salzwasserkrokodils und die Arbeitsaufteilung in einem Bienenschwarm. 
Zwar fällt es dem Publikum leicht, Cari seine Sympathien zu schenken, doch davon abgesehen berührt der nüchtern geschilderte Ekel kaum, wird keine wirkliche Spannung erzeugt. Als die Geschichte nach 275 Seiten abrupt zu Ende ist und sich als Füllmaterial noch eine 60-seitige Leseprobe von „Das Schweigen der Lämmer“ anschließt, ist die Enttäuschung komplett. „Cari Mora“ wirkt am Ende nicht wie ein Roman aus der Feder von Thomas Harris, sondern eines wenig ambitionierten Ghostwriters, dessen Werk kein Lektorat durchlaufen musste. 

Michael Connelly – (Mickey Haller: 1) „Der Mandant“

Dienstag, 14. Mai 2024

(Heyne, 528 S., HC) 
Als Autor von Kriminalreportagen und später als Polizeireporter für die Los Angeles Times hat Michael Connelly genügend Gerichtssäle von innen gesehen und so genauestens verfolgen können, wie das US-amerikanische Rechtssystem funktioniert. Seit 1992 hat er sein schriftstellerisches Talent und sein Faible für das Justizsystem in packende und preisgekrönte Romane um Detective Hieronymus „Harry“ Bosch gepackt, die schließlich die Grundlage für die mehrere Staffeln umfassende Serie „Bosch“ der Amazon-Studios bilden sollte. Nach zehn Bosch-Romanen und verschiedenen Einzeltiteln wie dem von und mit Clint Eastwood verfilmten „Blood Work“ veröffentlichte Connelly 2005 den Beginn einer neuen Romanreihe, diesmal um den sogenannten „Lincoln Lawyer“. Diesen Namen hat sich der in Los Angeles ansässige Strafverteidiger Michael „Mickey“ Haller durch den Umstand verdient, dass er über kein eigenes Büro verfügt, sondern seine Geschäfte in einem von seinem ehemaligen Mandanten Earl Briggs gesteuerten Lincoln Town Car abwickelt, wobei seine zweite Ex-Frau Lorna ihm die Fälle zuträgt und die Buchhaltung macht. 
Da momentan kaum lukrative Fälle zu verhandeln sind, freut sich Haller, als ihm der Kautionsvermittler Fernando Valenzuela den Fall von Louis Ross Roulet vermittelt. Der Sohn der prominenten Immobilienmaklerin Mary Windsor wird der Vergewaltigung und des versuchten Mordes beschuldigt. Als er das Mandat übernimmt, muss Hallers erste Ex-Frau, die Staatsanwältin Maggie McPherson, als Anklägerin wegen eines Interessenkonflikts den Fall an den noch unerfahrenen Kollegen Minton abgeben. 
Für Haller entwickelt sich der prestigeträchtige Fall zunächst ganz nach seiner Vorstellung, gelingt es ihm doch durch seinen Ermittler Raul Levin, eine Videoaufnahme zu finden, auf der zu sehen ist, wie das vermeintliche Opfer in einer Bar Roulet einen Zettel zugesteckt hat. Außerdem entdeckt Haller eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen Campo und der Nachtklubtänzerin Martha Renteria, die vergewaltigt und mit mehreren Messerstichen getötet worden ist. Bei der Verteidigung des angeklagten Jesus Menendez hat sich Haller damals nicht besonders reingehängt, sondern seinen Mandanten nur durch ein Geständnis vor der Todesstrafe bewahren können, obwohl Menendez bis zum Schluss seine Unschuld beteuert hatte. 
Als Haller zur Überzeugung gelangt, dass Menendez tatsächlich für ein Verbrechen verurteilt worden ist, das er nicht begangen hat, und dass Roulet ein Serienmörder und -vergewaltiger ist, muss er sehr behutsam bei seiner Verteidigungsstrategie sein, denn Roulet hat einige Druckmittel in petto, mit denen er glaubt, seinen Verteidiger in der Spur halten zu können… 
„Alles lief darauf hinaus, dass einer meiner Mandanten einen Mord begangen hatte, für den ein zweiter Mandant lebenslänglich einsaß. Ich konnte dem einen nicht helfen, ohne dem anderen zu schaden. Ich brauchte eine Antwort. Ich brauchte einen Plan. Vor allem brauchte ich Beweise.“ (S. 236) 
Mit dem Strafverteidiger Mickey Haller hat Michael Connelly eine interessante Figur erschaffen, die im Gegensatz zu John Grishams Kämpfern für die Gerechtigkeit eher am eigenen Prestige interessiert zu sein scheint als an der bestmöglichen Verteidigung seiner Mandanten, die er aber auch mal – sehr zum Ärger seiner Ex-Frau Lorna – kostenlos vertritt. Während Grishams Protagonisten eher juristische Fachbücher wälzen, um die in der Regel sehr finanzkräftige Gegenpartei in die Knie zu zwingen, ist Mickey Haller definitiv aus anderem Holz geschnitzt. Dass er bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich hat, spricht natürlich für sich – auch wenn er zu seinen beiden Ex-Frauen nach wie vor ein gutes Verhältnis pflegt und sich gerade darum bemüht, zu seiner Teenager-Tochter Hayley einen besseren Kontakt herzustellen. 
Haller erweist sich in „Der Mandant“ als gewiefter Strafverteidiger, der der Staatsanwalt immer einen Schritt voraus zu sein scheint und selbst in Bedrängnis einen Plan entwickelt, um seine persönlichen Ziele zu wahren. Der Plot ist jedenfalls äußerst stimmig aufgebaut und steigert die Spannung kontinuierlich, doch verläuft das wendungsreiche Finale auf sehr konstruierten Bahnen, was den Gesamteindruck leicht negativ beeinflusst. 
Am Ende bietet „Der Mandant“ aber so viel packende Unterhaltung, dass es nicht verwundert, dass der Roman 2011 mit Matthew McConaughey in der Rolle des Mickey Haller verfilmt wurde und 2022 sogar in der Netflix-Serie „The Lincoln Lawyer“ mündete.


Philippe Djian – „Doggy Bag – Zwei“

Montag, 13. Mai 2024

(Diogenes, 310 S., Tb.) 
Mit Romanen wie „Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“, „Erogene Zone“ und „Verraten und verkauft“ avancierte Philippe Djian ab Mitte der 1980er Jahre zum Kultautor, dessen knackige Prosa, unverblümte Sprache und wilden Stories bis heute kaum etwas von ihrer Faszination eingebüßt haben. Im Jahr 2005 startete der Franzose mit „Doggy Bag“ ein ungewöhnliches literarisches Experiment, eine Soap in sechs Bänden. Im Mittelpunkt seiner insgesamt 1800 Seiten umfassenden Seifenoper stehen die beiden Brüder Marc und David Sollens, die in ihren Zwanzigern in dieselbe Frau, Édith, verliebt gewesen sind, worauf sie die Stadt für zwanzig Jahre mit ihrem Ausweich-Lover Paul verließ, nur um zwanzig Jahre später wieder zurückzukehren – mit ihrer neunzehnjährigen Tochter Sonia im Schlepptau. 
Bevor sich die Rivalität der beiden Brüder, die gemeinsam ein Autohaus führen, wieder zuspitzen kann, erscheinen die Fronten im zweiten Band bereits abgesteckt. Der sexbesessene Marc kauft für sich und Édith eine Villa und will fortan monogam leben, während David etwas verunsichert der Hochzeit mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne entgegensieht. Marcs und Davids Vater Victor schlägt sich mit Depressionen angesichts seiner Sterblichkeit herum und hofft, nicht ganz vergebens, auf eine Versöhnung mit seiner Frau Irène. Solange sie sich aber noch sperrt, fokussiert sich Victor ganz auf seine Enkelin Sonia. 
Irène lässt sich derweil auf eine Affäre mit einem wortkargen Tischler ein, der ihr zwar berauschende Orgasmen in seinem Lieferwagen beschert, dann aber eine Seite an sich offenbart, die Irène sprachlos macht. Und Marc muss feststellen, dass es viel schwieriger ist, monogam zu bleiben, als er erwartet hatte… 
„Im Übrigen hatte ihn diese Rothaarige fast mit den Augen verschlungen. Sie hatte ihm keine Chance gelassen, wirklich nicht die geringste. Wie viele Männer hätten sich schon geweigert, die Gelegenheit beim Schopf zu packen? Was für Schlussfolgerungen ließen sich aus dem bedauerlichen Fehltritt ziehen? Keine einzige. Zum Glück keine einzige. Der Weg, den er eingeschlagen hatte, blieb noch immer der gleiche. Dieser Ausrutscher, diese Entgleisung änderte gar nichts. Nur noch Édith. Von nun an nur noch Édith.“ (S. 216). 
Djian bleibt sich auch bei seiner sechsteiligen Soap insofern treu, als er genüsslich die amourösen Abenteuer und Verstrickungen sich nah stehender Menschen beschreibt und seziert, wobei die Protagonist:innen bei Djian mit ihm zusammen altern. 
Als der Autor im Jahr 2005 mit „Doggy Bag“ begann, zählte er selbst schon 55 Lenze. Insofern verwundert es nicht, wenn nun vor allem die über Vierzigjährigen krachen lassen, aber auch jenseits der sechzig wird hier kräftig bei jeder sich bietenden Gelegenheit gevögelt. Es ist vor allem Djians sprachlicher Finesse zu verdanken, dass „Doggy Bag – Zwei“ kurzweilig zu unterhalten versteht, ohne bei den Beziehungen zwischen den Beteiligten besonders in die Tiefe zu gehen. 
„Ich versuchte, mich auf demselben Terrain durchzukämpfen, auf dem sich das Fernsehen bewegt, und ich versuche die zurückzuerobern, die kein Buch mehr aufschlagen und nur noch auf den Bildschirm starren“, beschrieb der Autor das Konzept von „Doggy Bag“. „Die Schlacht ist vielleicht von vornherein verloren, aber man muss sie trotzdem schlagen…“ 
Es ist in der Tat kaum anzunehmen, dass Djians ehemalige Leser, die nun vor der Glotze versauern, ausgerechnet durch seine Soap-Romane zurück in die literarische Welt finden, vor allem nicht über sechs Bände lang, doch vergnüglich – mehr aber auch nicht – sind die turbulenten, dialoglastigen und temporeichen Verwicklungen allemal. Und mit einem geschickten Cliffhanger vermag es Djian eventuell sogar, seine Leser zum nächsten Band greifen zu lassen…


David Baldacci – (Amos Decker: 6) „Open Fire“

Sonntag, 5. Mai 2024

(Heyne, 494 S., HC) 
Mit FBI-Agent Amos Decker, einem ehemaligen Football-Profi, der nach dem Bodycheck eines Gegners nicht nur eine folgenschwere Hirnverletzung davongetragen hatte, sondern dadurch auch ein fotografisches Gedächtnis und synästhetische Fähigkeiten beschert bekam, hat der US-amerikanische Bestseller-Autor David Baldacci („Der Präsident“, „Die Wächter“) einen seiner faszinierendsten Figuren erschaffen. Mit „Open Fire“ erscheint nun der bereits sechste Fall von Decker und seiner Partnerin, der ehemaligen Journalistin Alex Jamison. 
Der Jäger Hal Parker entdeckt während seiner Jagd auf einen Wolf in den Badlands von North Dakota eine nackte Frauenleiche, der die Schädeldecke abgetrennt und die offenbar bereits obduziert worden ist. Als Decker und Jamison von ihrem Chef Bogart beauftragt werden, den Mord in der Kleinstadt London zu untersuchen, hat dieser sich ungewöhnlich wortkarg gegeben. 
Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem Opfer um Irene Carter, die in einer Täufergemeinde als Lehrerin arbeitete und offensichtlich nebenbei als Escort-Dame tätig war. Durch seinen Schwager Stan Baker, der durch das florierende Fracking-Geschäft nach London gezogen ist, und Lieutenant Joe Kelly vom hiesigen Police Department bekommen Decker und Jamison schnell einen Überblick über die Lage in London. Demnach sind die beiden Geschäftsleute Hugh Dawson und Stuart McClellan die Platzhirsche in der Kleinstadt, doch sind ihre Geschichten von verschiedenen Tragödien geprägt, zu denen sich bald weitere gesellen, denn offenbar will jemand mit allen Mitteln verhindern, dass die beiden FBI-Agenten hinter die Zusammenhänge zwischen dem Fracking und einer durch eine private Sicherheitsfirma streng bewachten militärischen Anlage kommen, in der einst verbotene Kampfstoffe produziert wurden. 
Als Decker und Jamison selbst zu Gejagten werden, taucht ein geheimnisvoller Mann namens Will Robie auf, der die beiden immer wieder aus brenzligen Situationen befreit. Doch Robies Anwesenheit wirft weitere Fragen auf, vor allem über eine „tickende Zeitbombe“… 
„Hatte das irgendwie mit den Rettungswagen zu tun, die Decker auf dem Gelände gesehen hatte? Und erklärte das vielleicht die mangelnde Bereitschaft des Stationskommandanten, Colonel Sumter, mit ihnen zusammenzuarbeiten? Sie mussten den Mann finden, diesen Ben, der Stan Baker gegenüber die Bemerkung über die tickende Zeitbombe gemacht hatte. Außerdem musste sich Decker mit Bakers Hilfe intensiver mit dem Fracking-Business auseinandersetzen. Nach Deckers Erfahrung waren besonders gewinnträchtige Geschäfte immer für ein Mordmotiv gut.“ (S. 162f.) 
Baldacci hat mittlerweile so viele Thriller-Serien konzipiert, dass es langsam schwerfällt, die Übersicht zu behalten, zumal die einzelnen Reihen selten mehr als fünf Romane umfassen. Dass mit „Open Fire“ bereits der sechste Band um den sogenannten „Memory Man“ Amos Decker veröffentlicht worden ist – ein siebenter namens „Long Shadows“ wartet noch auf seine deutsche Übersetzung -, spricht für das anhaltende Interesse sowohl des Autors als auch des Publikums an der Figur Amos Decker. 
Baldacci rekapituliert für Neueinsteiger noch einmal die Umstände, wie Decker zu seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten gelangt ist, beschreibt dessen Trauer über den Tod seiner Frau und seiner Tochter und das schwierige Verhältnis zu seiner Schwester Renee, die sich gerade von ihrem Mann Stan trennt, der für Deckers neuen Fall eine gute Informationsquelle darstellt. 
„Open Fire“ wartet mit einer Vielzahl von Figuren, merkwürdigen Selbstmorden und Unfällen – bereits in der Vergangenheit – auf sowie lange undurchsichtig erscheinenden Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren. Baldacci erweist sich als sehr geschickt darin, sukzessive die unzähligen Puzzleteile ins Spiel zu bringen und seine Ermittler daranzusetzen, diese Teile so zusammenzusetzen, dass die zunehmenden Todesfälle und merkwürdigen Erscheinungen Sinn ergeben. Dass Decker und Jamison dabei von einem anderen Serien-Helden Baldaccis – Will Robie – Unterstützung bekommen, sorgt vor allem für mehr Action und Geheimdiensthintergrund, macht die Handlung aber gerade im letzten Viertel zunehmend unglaubwürdiger. Dazu zählt die überraschend einfache Befreiung von Ketten und aus einem unterirdischen Verlies – in dem zufällig auch noch Sprengstoff gelagert wird -, aber auch das sehr konstruierte Motiv, das hinter den ganzen Morden steckt. Hier wäre weniger – an Figuren, Action und Zusammenhängen – definitiv mehr gewesen. 

Robert R. McCammon – „Das Haus Usher“

Montag, 29. April 2024

(Knaur, 414 S., Tb.) 
Obwohl Robert R. McCammon von den ausgehenden 1970er bis Anfang der 1990er Jahre sehr umtriebig im Horror-Genre gewesen ist, hat er doch nie den Erfolg seiner berühmten Genre-Mitstreiter wie Stephen King, Peter Straub, Dean R. Koontz oder Clive Barker einheimsen können. McCammons sechster, im Original 1984 unter dem Titel „Usher’s Passing“ veröffentlichter Roman zeigt sehr deutlich auf, warum der US-Amerikaner nie aus der zweiten Reihe herausgetreten ist. Die Idee, Edgar Allan Poes Grusel-Klassiker „Der Untergang des Hauses Usher“ fortzuführen, verdient zunächst einmal Respekt, doch die Umsetzung hätte besser ausfallen dürfen. 
Am 22. März 1847 bekommt der in gewissen Kreisen durchaus prominente Schriftsteller Edgar Allan Poe in New York Besuch von einem Mann, der sich als Hudson Usher vorstellt und Poe darauf hinweist, dass sein Bruder Roderick zwar tatsächlich 1837 bei einer Überschwemmung ums Leben gekommen und seine Schwester Madeline mit einem Wanderschauspieler durchgebrannt sei, doch das Haus Usher würde nach wie vor existieren… 
Mehr als hundertdreißig Jahre später kämpft der Schriftsteller Rix Usher um seine Zukunft. Sein letztes Buch „Feuerengel“ war vor drei Jahren mit bescheidenem Erfolg veröffentlicht worden, sein neues, fast sechshundert Seiten umfassendes Werk „Bedlam“, an dem Rix über eineinhalb Jahre gesessen hat, findet bei seiner Agentin Joan Rutherford allerdings wenig Anklang. Als seine Mutter ihn daher bittet, nach Usherland zurückzukehren, da es seinem Vater zunehmend schlechter ginge, kommt Rix der durch seinen Bruder Boone übermittelten Aufforderung nach. Zwar liegt Walen Usher, der durch die Munitionsfabrik seiner Familie zu einem der reichsten Männer Amerikas geworden ist, offiziell nicht im Sterben, doch die Wahrheit sieht viel düsterer aus. 
Rix beschließt nicht nur, seinem Vater in den letzten Stunden beizustehen, sondern auch seinen Plan umzusetzen, eine Chronik seiner Familie zu verfassen. Wie er nach seiner Ankunft in Usherland jedoch feststellen muss, schreibt bereits der Herausgeber der örtlichen Zeitung „Foxton Democrat“, Wheeler Dunstan, an einem solchen Werk, wobei ihn seine Tochter Raven unterstützt. Wheeler und Rix gründen eine Partnerschaft, bringen sich gegenseitig auf den neusten Stand und fügen die fehlenden Puzzleteile zusammen. Doch rund um Usherland geht es nicht mit rechten Dingen zu. Dazu zählt die Legende vom Kürbismann, dem Bergkönig und dem Zwitterwesen Gierschlund ebenso wie das regelmäßige Verschwinden von kleinen Kindern und die Ereignisse, die rund um den Stammsitz kreisen… 
„Der Tunnel musste schon alt sein. Wer hatte ihn wohl anlegen lassen? Hudson Usher, der mit fdem Bau des Stammsitzes begonnen hatte? Und wenn zwischen den Ushers und dem Kürbismann irgendeine Verbindung bestand, warum hatte dieser sich erst 1872 bemerkbar gemacht? Die Ushers waren seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hier. Was war der Kürbismann, und wieso hatte er mehr als hundert Jahre lang ungehindert sein Unwesen treiben können?“ (S. 367) 
Mit dem ersten Kapitel und der dort geschilderten Begegnung zwischen Edgar Allan Poe und Hudson Usher gelingt McCammon eine gute Überleitung von Poes berühmter Geschichte aus seinen „Grotesken und Arabesken“ in die Gegenwart der Usher-Familie, die durch Waffenproduktion zu unermesslichem Reichtum gekommen ist. McCammon nimmt sich auch die nötige Zeit, die derzeitigen Bewohner von Usherland und ihre schwierigen Beziehungen zueinander vorzustellen. Und auch die Beschreibung der unheimlichen Gegebenheiten rund um den Stammsitz sind McCammon gut gelungen. Doch dann lässt er das Figurenarsenal und die legendären Kreaturen wie den Kürbismann und Gierschlund etwas zu sehr außer Kontrolle geraten, so dass es dem Publikum nicht leichtgemacht wird, Identifikationsfiguren zu finden oder auch nur Sympathien mit auch nur einer von ihnen zu empfinden. Dass McCammon schließlich etliche Einflüsse von Poe selbst – vor allem das Pendel aus „Die Grube und das Pendel“ – mit in seine eigene Geschichte einbaut, führt nicht unbedingt zu mehr Originalität, sondern unnötiger Komplexität und Verwirrung.


Stephen King – „Langoliers“

Samstag, 27. April 2024

(Heyne, 512 S., Heyne Jumbo) 
Wie Stephen King in seiner Vorbemerkung zu der Novellen-Sammlung „Four Past Midnight“ erwähnt, ist er zu ihrer Veröffentlichung im Jahr 1990 bereits 16 Jahre im Geschäft des Schreibens tätig gewesen. In dieser doch schon bemerkenswerten Zeit sind nach seinem durch Brian De Palma verfilmtes Romandebüt „Carrie“ noch weitere – meist ebenfalls durch namhafte Regisseure wie Stanley Kubrick, John Carpenter, David Cronenberg, George A. Romero und Rob Reiner verfilmte - Bestseller wie „Shining“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Es“, „Sie“ und „Stark – The Dark Half“ erschienen, darüber hinaus auch Kurzgeschichten-Sammlungen wie „Nachtschicht“ und „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“. Mit „Four Past Midnight“ hat King vier längere Geschichten zusammengefasst, die fast eher in den Bereich des Kurzromans gehen, weshalb der Heyne Verlag je zwei Geschichten in dem Band „Langoliers“ und dann in „Nachts“ veröffentlicht hat, bevor später auch eine Taschenbuchausgabe mit dem Titel „Vier nach Mitternacht“ erschien. Viel interessanter als die Geschichten selbst – dies schon mal vorab – sind die Einführungen des Autors zu den jeweiligen Stories. So entstand die Grundidee für die Titelgeschichte aus dem Bild einer jungen Frau, die eine Hand auf einen Riss in der Hülle eines Linienflugzeugs drückt. 
In „Langoliers“ kommt Flugkapitän Brian Engle nach einem schwierigen Flug aus Tokio auf dem LAX, Amerikas schlimmsten Flughafen, an und erfährt, dass seine Ex-Frau Anne bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen sei. Engle fliegt daraufhin als Passagier von Los Angeles weiter nach Boston, schläft aber auch kurz nach dem Starten des „Schnarchflugs“ ein. Als er aufwacht, sind neben ihm selbst noch zehn weitere Passagiere an Bord, die ebenfalls geschlafen haben, darunter das blinde Mädchen Dinah, die Lehrerin Laura, der Musikhochschüler Albert und der geheimnisvolle Nick. Alle anderen – auch die Piloten und die Flugbegleiter:innen - scheinen auf mysteriöse Weise einfach verschwunden, auf vielen Plätzen liegen noch ihre Uhren, aber auch Herzschrittmacher und Zahnfüllungen. Engle übernimmt zwangsläufig das Kommando, versucht allerdings vergeblich, Funkkontakt zu anderen Flughäfen zu bekommen. 
Überhaupt scheint die Welt außerhalb des Flugzeugs eine komplett andere zu sein. Das bekommen Engle und seine Schicksalsgefährten auf schmerzvolle Weise zu spüren, als es ihnen gelingt, den Flughafen von Maine anzusteuern… 
„Langoliers“ wirkt wie Folge aus Rod Serlings „Twilight Zone“, zählt aber zu den schwächeren Geschichten des „King of Horror“. Das liegt nicht nur an der sehr kurzen Einführung der Figuren, die auch während des weiteren Verlaufs der Geschichte kaum Kontur gewinnen. King stellt eindeutig das aberwitzige Szenario in den Vordergrund und bringt seine Leserschaft ebenso wie die Beteiligten in eine Position, in der es vor allem darum geht, eine Erklärung für das Verschwinden der Menschen sowohl im Flugzeug als auch am Flughafen zu finden. Durch die für King ungewöhnlich große Distanz zwischen den Figuren und dem Publikum stellt sich längst nicht das wohlige Grauen ein, das die besseren Geschichten des Bestseller-Autors hervorrufen. 
Mit „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ bewegt sich King dann auf vertrautem Terrain, thematisiert einmal mehr das Spannungsfeld zwischen Literatur, Leser und Schriftsteller. Stand in dem auch erfolgreich von Rob Reiner verfilmten Bestseller „Sie“ der starke Einfluss im Vordergrund, den Literatur auf die Leserschaft ausüben kann, beleuchtete King in dem (vom renommierten Horror-Regisseur George A. Romero adaptierten) Roman „Stark – The Dark Half“ wiederum den manchmal durchaus zerstörerischen Einfluss, mit dem Literatur den Schriftsteller prägen und verändern kann. 
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ nähert sich eher dem zweiten Phänomen an, wird der frisch geschiedene und unter einer Schreibblockade leidende Schriftsteller Morton Rainey in dem Sommerhaus am Tashmore Lake von einem mysteriösen Mann, der sich als John Shooter vorstellt, mit dem Vorwurf konfrontiert, seine 1982 geschriebene Geschichte „Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“ gestohlen zu haben, und verlangt im Gegenzug, dass Rainey ihm eine Geschichte schreibt. Rainey fühlt sich zunächst auf sicherem Terrain, schließlich ist seine Geschichte mit dem Titel „Zeit zu säen“ bereits 1980 im Ellery Queens Kriminalmagazin erstmals veröffentlicht worden. 
Shooter will allerdings innerhalb von drei Tagen einen Beweis in Form einer der Originalausgaben des Magazins in der Hand halten. Während Rainey seinen Agenten darauf ansetzt, eine dieser Ausgaben per Express zu ihm schicken zu lassen, geschehen grausame Dinge. Eines Morgens findet Rainey seinen Kater Bump mit einem Schraubendreher am Dach des Müllkastens angenagelt vor, wenig später ist das Haus, in dem seine Ex-Frau Amy lebte, bis auf die Grundmauern abgebrannt. Während der Versicherungsdetektiv nach Hinweisen auf die offensichtliche Brandstiftung sucht, wird Rainey von verdrängten Erinnerungen und düsteren Träumen heimgesucht… 
„Er glaubte, ohne ihre große Kapazität der Selbsttäuschung wäre die menschliche Rasse wahrscheinlich noch verrückter, als sie ohnehin war. Aber manchmal brach die Wahrheit durch, und wenn man bewusst versucht hatte, zu träumen und sich diese Wahrheit nicht einzugestehen, konnten die Folgen verheerend sein: Es war, als wäre man dabei, wenn eine gigantische Flutwelle nicht nur über, sondern regelrecht durch einen Damm raste, der in ihrem Weg lag, und diesen samt einem selbst zerschmetterte.“ (S. 397)
„Das heimliche Fenster, der heimliche Garten“, das mit Johnny Depp in der Hauptrolle als „Das geheime Fenster“ verfilmt worden ist, wirkt zwar atmosphärisch stimmiger und ist in der Charakterisierung der zugegebenermaßen wenigen Figuren gelungener als „Langoliers“, kann aber mit Stephen Kings früheren Auseinandersetzungen mit dem eingangs erwähnten Spannungsfeld längst nicht mithalten. Das liegt vor allem an dem sehr vorhersehbaren Ausgang der Geschichte und der nicht wirklich überzeugenden Motivation für die grausamen Taten, die uns im Verlauf der Story begegnen. Fans der großartigen Sammlung „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“ dürften hier eher enttäuscht werden.


Stephen King – „Sie“

Montag, 15. April 2024

(Heyne, 400 S., Jumbo) 
Seit seinem 1974 veröffentlichten Romandebüt „Carrie“ hat es Stephen King innerhalb weniger Jahre mit weiteren, allesamt verfilmten Werken wie „Brennen muss Salem“, „Shining“, „The Stand – Das letzte Gefecht“, „Dead Zone – Das Attentat“, „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“ und vor allem „Es“ zum meistgelesenen Horrorautoren aller Zeiten geschafft. Ein besonderer Coup ist dem „King of Horror“ mit dem 1987 erschienenen und durch Rob Reiner erfolgreich mit James Caan und Kathy Bates in den Hauptrollen verfilmten Bestseller „Misery“ gelungen, der hierzulande als Erstauflage in dem leider nur kurzlebigen Jumbo-Paperback-Format bei Heyne unter dem Titel „Sie“ veröffentlicht worden ist. 
Nachdem der bekannte Romanautor Paul Sheldon bei einem Schneesturm von der Straße abgekommen und einen Hang hinuntergerutscht ist, hätte er mit seinen beiden gebrochenen Beinen gut umkommen können, doch die ehemalige Krankenschwester Annie Wilkes hat es geschafft, den bewusstlosen Mann aus dem Auto zu bergen und ihn in ihr einsam gelegenes Haus nahe der Stadt Sidewinder in Colorado zu bringen, wo sie mit ein paar Hühnern und einem Schwein lebt, das sie nach Paul Sheldons berühmtester Romanfigur Misery genannt hat. Als Paul Sheldon sein Bewusstsein wiedererlangt, sieht er seine völlig zerstörten Beine behelfsmäßig geschient und sich seiner Retterin hilflos ausgeliefert. Dass mit Annie Wilkes etwas nicht stimmt, merkt mit Novril ruhig gestellte Sheldon sofort. Schließlich hat die gute Frau es nicht für nötig gehalten, die Polizei über ihren Fund zu informieren oder den schwerverletzten Mann ins Krankenhaus zu fahren. Aus Dankbarkeit lässt Sheldon seinem selbsternannten „Fan Nr. 1“ seinen neuen Roman „Schnelle Autos“ lesen, doch zeigt sich Annie wenig begeistert von dem ernsthaften Stoff. Als sie bei einem Einkauf eine Taschenbuchausgabe von Sheldons letzten „Misery“-Roman entdeckt, ist sie so entsetzt darüber, dass ihre absolute Lieblingsheldin stirbt, dass sie Sheldon dazu zwingt, sein Manuskript von „Schnelle Autos“ zu verbrennen und einen neuen „Misery“-Roman zu schreiben, in dem Misery Chastain wiederbelebt wird. Doch je mehr Paul gezwungenermaßen in dem Zimmer eingesperrt ist, desto mehr stellt er fest, dass Annie unter ernsthaften psychischen Problemen leidet und sicher nicht vorhat, ihren Lieblingsautor jemals wieder gehen zu lassen… 
„Er wusste, dass er unablässig terrorisiert worden war, aber hatte er gewusst, wieviel von seiner subjektiven Realität, die einst so stark gewesen war, dass er sie als gottgegeben betrachtet hatte, ausgelöscht worden war? Er wusste eines mit ziemlicher Sicherheit – es war wesentlich mehr mit ihm nicht in Ordnung als nur die Lähmung seiner Zunge, ebenso wie mit dem, was er geschrieben hatte, wesentlich mehr nicht in Ordnung war als die fehlende Type oder das Fieber oder Sprünge in der Kontinuität oder selbst der Verlust seines Schneids. Die Wahrheit hinter allem war so einfach in ihrer Grausamkeit, so schrecklich einfach. Er starb Stück für Stück…“ (S. 305) 
Waren viele seiner vorangegangenen Horrorromane von übernatürlichen Fähigkeiten wie Telekinese („Carrie“), übersinnlichen Wahrnehmungen („Shining“), hellseherischen Fähigkeiten („Dead Zone“) oder Pyrokinese („Feuerkind“) geprägt oder behandelten klassische Horrorthemen wie Vampirismus („Brennen muss Salem“), kommt „Sie“ ohne jegliche übernatürliche Komponente aus. 
Kings Roman wirkt wie ein klassisches Bühnenstück, dessen Handlung sich gut und gerne auf ein Zimmer und zwei Personen beschränken könnte. 
Der Horror entsteht durch den Wahnsinn der ehemaligen Krankenschwester Annie Wilkes, die in Rob Reiners Verfilmung durch eine Oscar-prämierte Kathy Bates zum Leben erweckt worden ist. Durch Paul Sheldons absolute Hilfslosigkeit wird ein Szenario heraufbeschworen, in dem Annie Wilkes ihre labile Psyche hemmungslos an ihrem Opfer austoben lässt, wobei die Beziehung zwischen Autor und Leser natürlich auch selbstreferentielle Züge aufweist. 
Stephen King lässt sein Alter Ego auch über die Unterscheidung zwischen ernsthafter und Schundliteratur schwadronieren, wobei der Leser nicht umhinkommt, auch Kings eigene Meinung zu diesem Thema hineinzuinterpretieren. Im Verlauf der Handlung kommt es zu einigen wirklich grausamen Verstümmelungen, aber das Beste hebt sich King für das grandiose Finale auf, das einen so schnell nicht mehr loslässt.