Paul Auster – „Im Land der letzten Dinge“

Mittwoch, 17. März 2021

(Rowohlt, 200 S., HC) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Auster hat gleich mit seinem Debüt, der 1987 veröffentlichten, aus den Novellen „Stadt aus Glas“, „Schlagschatten“ und „Hinter verschlossenen Türen“ bestehenden „New-York-Trilogie“ international für Aufsehen gesorgt. Noch im gleichen Jahr erschien der kompakte Roman „In The Country of Last Things“, der zwei Jahre darauf in deutscher Übersetzung bei Rowohlt veröffentlicht wurde. In diesem dystopischen Briefroman lässt Auster eine junge Frau namens Anna Blume in einer unbestimmten Zeit und an einem nicht näher benannten Ort verzweifelt nach ihrem Bruder William suchen. Der Journalist wurde von seiner Zeitung vor einiger Zeit in die „Stadt“ geschickt, von wo er wöchentlich Berichte abliefern sollte, historische Hintergründe und Geschichten aus dem Leben, doch nach ein paar kurzen Nachrichten ließ William nichts mehr von sich hören. 
Trotz aller Warnungen macht sich Anna daraufhin auf eine zehntägige Überfahrt mit dem Schiff, findet sich in einer Stadt voller Straßen und hungernden Menschen wieder, die ihrem elenden Leben auf verschiedenen Weisen ein Ende setzen wollen. Entweder schließen sie sich den „Rennern“ an, die sich regelmäßig zusammenfinden, um dann kreuz und quer solange durch die Straßen hetzen, bis sie tot umfallen, oder sie stürzen sich im Rahmen eines öffentlichen Rituals mit dem „Letzten Sprung“ von Hochhäusern. Sie treten Mordvereinen bei und wartet gegen eine geringe Gebühr darauf, von einem ihnen zugeteilten Attentäter ermordet zu werden. 
Wer über mehr Vermögen verfügt, kann sich auch in Euthanasiekliniken begeben, um sich mehr oder weniger luxuriös aus dem Leben zu verabschieden. Das unstete Klima, der allgegenwärtige Hunger, die grässliche Mischung aus Tod, Abfall und Fäkalien, die die Straßen verstopft und die oft gefährliche Art, sich als Materialjäger seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sorgen für eine hoffnungslose Atmosphäre. Einziger Anhaltspunkt für Anna ist die Fotografie eines weiteren Reporters, die ihr Williams Chef auf ihre hoffnungslose Mission mitgegeben hat. 
Es dauert eine Ewigkeit, bis sie diesen Samuel Farr tatsächlich in einer heruntergekommenen Bibliothek entdeckt. Da ist der Mann nur noch ein Schatten im Vergleich zu der längst zerknitterten und ausgeblichenen Fotografie. Anna kommt bei dem Ehepaar Ferdinand und Isabel unter, übersteht in ihrer neuen Bleibe den harten Winter, muss sich aber der Zudringlichkeit des Mannes erwehren. Tags darauf liegt Ferdinand tot in einer Ecke, wird von Isabel und Anna, getarnt als Letzten Sprung, vom Dach des Hauses gestoßen. Als Isabel so schwer erkrankt, dass sie keine Nahrung, dann auch keine Flüssigkeiten aufnehmen und auch nicht mehr sprechen kann, besorgt ihr Anna ein Notizbuch, in das Isabel aber nur noch kurz etwas schreibt, bevor sie stirbt. Anna beschließt, das kaum benutzte Notizbuch zu nutzen, um ihrem alten Jugendfreund einen langen Brief von ihren Erlebnisse und Eindrücken in der „Stadt“ zu berichten, aus der es kein Entkommen zu geben scheint …
„Du siehst, womit man es hier zu tun hat. Nicht nur dass Dinge verschwinden – mit ihnen verschwindet zugleich auch die Erinnerung an sie. Dunkle Bereiche entstehen im Gehirn, und wer sich nicht ständig bemüht, sich die verlorenen Dinge zu vergegenwärtigen, dem kommen sie schnell für immer abhanden.“ (S. 97) 
Es ist nicht nötig, dass Paul Auster in seinem ebenso schmalen wie eindringlichen Roman „Im Land der letzten Dinge“ Orte und Zeiten präzisieren muss. Die lebendige Schilderung dessen, was seine Protagonistin in ihrem Notizbuch als Brief an ihren Jugendfreund über die Zustände in der nach außen hin abgeriegelten „Stadt“ berichtet, führt dem Leser allzu deutlich vor Augen, dass es selbst in unserer zivilisierten Wohlstandsgesellschaft jederzeit zu solch fürchterlichen Lebensumständen kommen kann, wenn beispielsweise von diktatorischen Staaten das Kriegsrecht verhängt worden ist und die Bevölkerung inmitten der Bombentrümmer am Verhungern ist. 
Auster lässt seine junge, aufopferungsvoll nach ihrem verschollenen Bruder suchende Anna Blume so einige Schicksalsschläge einstecken, aber irgendwie gelingt es ihr, all die Jahre zu überleben und Gefährten zu finden, die ihr das beschwerliche Leben angenehmer zu gestalten helfen. Selbst für Wohltätigkeit findet sich immer wieder eine Gelegenheit. Trotz des dystopischen Tons schleicht sich so durch die Augen der Briefschreiberin ein großes Maß an Hoffnung auf eine bessere Welt durch die Geschichte einer Suche, während der unglaubliche Zufälle dafür sorgen, dass es für Anna weitergehen kann. 
Die Warnung, die Auster trotz des Science-Fiction-Gewands seiner Geschichte mit seinem erschreckend realistisch wirkenden Szenario ausspricht, hallt jedenfalls lange nach. 

Stephen King - "Später"

Sonntag, 14. März 2021

(Heyne, 304 S., HC) 
Der neunjährige Jamie Conklin wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter Tia in Manhattan auf, wo sie in die Fußstapfen ihres Bruders, den an Demenz erkrankten Literaturagenten Harry, getreten ist. Dank der erfolgreichen „Roanoke“-Reihe des Bestseller-Autors Regis Thomas kommen Mutter und Sohn einigermaßen gut über die Runden, doch dann stirbt Thomas, bevor er den abschließenden Band seiner Reihe abgeschlossen hat. Doch Tia hat eine Lösung für das Problem parat: Außer ihr weiß niemand, dass ihr kleiner Schatz über die Fähigkeit verfügt, tote Menschen zu sehen – wie der kleine Cole in M. Night Shyamalans Mystery-Thriller „The Sixth Sense“. 
Im Gegensatz zum jungen Filmhelden kann Jamie die Verstorbenen aber nur für kurze Zeit in der Nähe des Ortes erkennen, an dem sie gestorben sind, oder bei ihrer Beerdigung bzw. an Lieblingsplätzen. Nachdem Jamie gerade erst dem emeritierten Universitätsprofessor Mr. Burkett verraten konnte, wo seine verstorbene Frau ihre Ringe versteckt hatte, soll der Junge nun von Regis Thomas in Erfahrung bringen, wie die unvollendete Geschichte ausgeht, schließlich gibt es noch einige Geheimnisse zu lösen, die als eine Art Cliffhanger den Erfolg der schlüpfrigen Buchreihe sichergestellt haben. Währenddessen hat sich Tia mit der Polizistin Liz eingelassen, doch als sie Drogen in ihrem Besitz findet, schmeißt Tia die von der Innenrevision ohnehin beobachtete Polizistin wieder vor die Tür. Jamies außergewöhnliche Fähigkeiten kommen aber immer wieder zum Einsatz, vor allem für Liz, die ihre im Niedergang befindliche Karriere wieder in Schwung bringen will, indem sie mit Jamies Hilfe die letzte, noch nicht detonierte Bombe des langjährig gesuchten Attentäters Therriault und schließlich die heiße Ware eines getöteten Drogendealers finden will. 
Im Gegensatz zu allen bisherigen Toten, die nach gut drei Tagen völlig verschwunden sind, wird Jamie von dem verrückten Bombenleger aber weiterhin belästigt … 
„Ich wusste, dass die Toten eine Wirkung auf Lebende haben konnten, das war keine Überraschung, aber immer wenn ich es zuvor gesehen hatte, war die Wirkung minimal gewesen. Professor Burkett hatte den Kuss seiner Frau wie einen Hauch gespürt. Liz hatte gespürt, wie Regis Thomas ihr ins Gesicht gepustet hatte. Aber das, was ich gerade erlebt hatte – die zerplatzende Lampe, der sich zitternd drehende Türknauf, der Kurier, der vom Fahrrad gestürzt war -, das hatte eine ganz andere Dimension.“ (S. 194) 
Stephen King ist nicht nur für apokalyptische Epen wie „The Stand – Das letzte Gefecht“, die Saga um den „Dunklen Turm“ und „Die Arena“ berühmt geworden, er hat auch der literarischen Form der Kurzgeschichte wieder mehr Anerkennung verschafft und sich mit „The Green Mile“ erfolgreich an dem Experiment des Fortsetzungsromans versucht. 
In den vergangenen Jahren hat er gelegentlich auch kürzere Romane verfasst, die er als Hommage an die klassischen Pulp-Krimis versteht und bei Hard Case Crime veröffentlicht hat. Nach „Colorado Kid“ (2005) und „Joyland“ (2013) folgt nun der (vorerst?) abschließende Band „Später“. Dabei ist die Geschichte zunächst nicht besonders originell. Kings Ich-Erzähler, der als Zweiundzwanzigjähriger auf die Ereignisse zurückblickt, die ihm im Alter von neun Jahren widerfahren sind, macht keinen Hehl daraus, dass die Grundidee Shyamalans Horror-Blockbuster entlehnt ist, aber es scheint, dass dem Bestseller-Autor auch nicht in erster Linie an einer typischen Geister-Geschichte gelegen ist, sondern eher an dem mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommenden Subtext. 
So wie schon in „Finderlohn“ rechnet King ganz offen mit den dubiosen Praktiken im Literaturbetrieb ab, wo sich Bestseller-Autoren den Gesetzen des Marktes unterwerfen und ihr Publikum mit einer Mischung aus exotischen Abenteuern und Sex unterhalten, wobei sie sich auch gern Ghostwritern bedienen, die dafür sorgen, dass der Strom an verkaufsträchtigen Geschichten nicht versiegt. Darüber hinaus hat King seine Geschichte sicher ganz bewusst in die Obama-Zeit des Jahres 2008 angesiedelt, als der Börsencrash dafür sorgte, dass unzähligen Menschen ihr Zuhause verloren, weil sie Opfer fauler Hypotheken geworden sind. Auch Jamie Conklins Familie war unter den Leidtragenden. Ausführlich lässt King seinen Protagonisten beschreiben, zunächst Onkel Harry, dann auch seine Mutter in einen vermeintlich lukrativen Fonds investierten und alles verloren. 
Daraus resultierend haben sowohl Jamies Mutter als auch ihre Freundin Liz einen extremen Egoismus entwickelt, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Da machen sie eben auch nicht davor Halt, die außergewöhnliche Gabe eines kleinen Jungen mit fast krimineller Energie auszunutzen. Neben diesen gesellschaftskritischen Tönen überzeugt „Später“ aber auch als geschickt konstruiertes Thriller-Horror-Drama, das am Ende ordentlich an Fahrt gewinnt und mit einer feinen Pointe überrascht, auch wenn sie nicht so stark ist wie im vage vergleichbaren Film „The Sixth Sense“.  

Daniel Woodrell – „Der Tod von Sweet Mister“

Samstag, 13. März 2021

(Liebeskind, 192 S., HC) 
Der dreizehnjährige, von seinem Stiefvater Red meist nur als „Fettsack“ bezeichnete Morris „Shug“ Atkins wächst in den Ozarks, dem Hinterland von Missouri, auf und muss Tag für Tag miterleben, wie seine Umwelt vor die Hunde geht. Seine einstmals schöne Mutter Glenda hängt eigentlich nur and er Flasche, nennt den Rum-Cola-Mix, den ihr Shug regelmäßig in eine Thermoskanne abfüllen muss, verniedlichend nur „Tee“, während der nichtsnutzige Red kommt und geht, wie er will. Seinen ungeliebten Stiefsohn nimmt er allerdings auf seinen Raubzügen mit. Während er selbst im Auto wartet, verschafft sich Shug als Verkäufer der Farmer-Zeitung „Grit“ Zugang zu vorher ausgekundschafteten Häusern und klaut schwerkranken Menschen ihre Schmerzmittel. 
Shug empfindet dabei immerhin so viel Mitgefühl, dass er den bettlägerigen Menschen noch ein paar Pillen dalässt, damit ihre Angehörigen rechtzeitig Nachschub besorgen können. Shug ist alles andere als wohl bei diesen Raubzügen, zu denen er aufgefordert wird, doch fehlt ihm die Kraft, dem verhassten Red Paroli bieten zu können. Stattdessen behagt Shug der Gedanke, für seine Mutter mehr als nur ein Kind zu sein. Ihre vertrauten, liebevollen Gesten machen ihm Mut, etwas mehr als mütterliche Zuneigung einzufordern. Doch als sich Glenda in den Koch Jimmy Vin Pierce verguckt, der Glenda und Shug in seinem grünen Thunderbird in schicke Restaurants ausführt und vor allem Glenda von einem anderen Leben träumen lässt, kommt es zur Katastrophe … 
„Eine Weile schwankten die normalen Tage. Manchmal dachte ich, das Haus würde zittern. Es war alles ganz normal, und jeden Tag drängten sich Dinge auf, die nicht normal waren. Ein Haus, das zitterte, warf alles ab. Jimmy Vin hielt sich fern und ließ Glenda mit ihren Gedanken allein; sie war ständig betrunken. Jeden Tag wartete sie auf ihn, versuchte zu lächeln, wartete, wurde immer unruhiger, aber er tauchte nicht auf. Noch vor dem Mittagessen nahm sie ihre silberne Thermoskanne mit ins Schlafzimmer, lag da und fragte ab und zu, ob ich den Thunderbird in der Nähe gesehen hätte.“ (S. 154) 
15 Jahre nach seinem Romandebüt „Cajun Blues“, dem Auftakt seiner „Bayou“-Trilogie, und fünf Jahre vor seinem erfolgreich verfilmten Bestseller „Winters Knochen“ widmete sich der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell 2001 mit „Der Tod von Sweet Mister“ einmal mehr dem White Trash im unwirtlichen Ozark-Plateau. Hier gehen die Menschen kaum geregelten Jobs nach, kümmern sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und kommen nur durch krumme Dinge über die Runden. 
In dieser trostlosen Welt wächst der als Ich-Erzähler eingesetzte Shug auf, der im Alter von gerade mal dreizehn Jahren mitansehen muss, wie seine Familie vor die Hunde geht. Seine einst hübsche Mutter Glenda, die ihren Sohn auch mal liebevoll „Sweet Mister“ nennt, scheint eher auf die Fürsorge ihres Sohnes angewiesen zu sein als andersherum. In seinem jungen Alter bleibt Shug allerdings nichts anderes übrig, als nach dem Willen der egoistischen Erwachsenen zu tanzen. So geht Shug durch die harte Schule des Lebens. 
„Der Tod von Sweet Mister“ – der doppeldeutige Titel deutet es bereits an – ist eine Coming-of-Age-Geschichte der düsteren Sorte. Echte Zuneigung scheint es unter diesen Hillbillys nicht zu geben, und jeder zarte Versuch, daran etwas zu ändern, endet mit einer Katastrophe. Im Gegensatz zu vielen Horror-Filmen, die im Hillbilly-Milieu angesiedelt sind, wie „Texas Chainsaw Massacre“, „The Hills Have Eyes“ oder „Wrong Turn“, bedient sich Woodrell aber keiner Klischees, sondern erweckt in seiner unnachahmlich fesselnden Sprache seine Figuren zu echtem Leben, ohne sie zu verurteilen. Von Beginn macht der Autor aber auch deutlich, dass es aus diesem Schlammassel keinen Ausweg gibt. Sein dreizehnjähriger Protagonist wird nur herumgeschubst, als Projektionsfläche für die wahre Liebe von seiner Mutter missbraucht, von seinem eigennützigen Stiefvater zu kriminellen Handlungen angestiftet und muss so auf die harte Tour lernen, wie die Welt der Erwachsenen tickt und sich dreht. Ein Happy End kann es in dieser rauen Welt, in der es den Menschen an allem mangelt, nicht geben. 

Daniel Woodrell – „In Almas Augen“

Donnerstag, 11. März 2021

(Liebeskind, 188 S., HC) 
Im Sommer 1929 kommt es in einer Kleinstadt in Missouri während einer Tanzveranstaltung in der Arbor Dance Hall zu einer nie aufgeklärten Explosion, bei der am Ende 42 Menschen ihr Leben verloren. Vor allem die Haushälterin Alma DeGeer Dunahew lassen die schrecklichen Ereignisse ihr Leben lang nicht los, schließlich verlor sie auch ihre geliebte Schwester Ruby in den Flammen. Ihr Enkel Alek ist zwölf, als er den Sommer 1965 bei ihr verbringt und die Geschichte aus ihrem Mund zu hören bekommt. 
Sofort ist der Junge fasziniert, schließlich handelt es sich um eine aufregende Geschichte um Feuer, Flammen und Tod. Es gab viele Tote, aber wenige Verdächtige, ein Rätsel, das nie gelöst wurde. Doch Alma, die weder „Großmutter“ noch „Omama“ genannt werden wollte, hat ihre eigene Theorie, wer hinter dem Unglück gesteckt haben könnte. Alma, so berichtet der Ich-Erzähler Alek, hatte die Schule nur bis zum Ende der dritten Klasse besuchen dürfen, hat sich auf den Feldern ihres gewalttätigen Vaters Cecil DeGeer abgerackert, um dann als Dreizehnjährige in die Stadt zu entfliehen und dort Jobs als Köchin, Wäscherin und Dienstmagd anzutreten.
 Sie hatte ein entbehrungsreiches, von Enttäuschungen und Verlusten geprägtes Leben hinter sich, heiratete den alkoholsüchtigen Nichtsnutz Buster, bekam drei Kinder, verlor aber zwei von ihnen. Bei ihren gemeinsamen Spaziergängen durch die Stadt gab Alma stets Episoden aus ihrem Leben dort zum Besten. Am ausführlichsten berichtete Alma von ihrem Leben als Magd bei der einflussreichen Bankiersfamilie Glencross. Im Gegensatz zu ihr selbst verstand es ihre zehn Jahre jüngere Schwester Ruby, ihr attraktives Äußeres und ihren Charme gekonnt einzusetzen, um die Herzen jener gut gestellten Männer zu betören, die sie mit Geschenken überhäuften, bis sich spendablere Männer fanden. Schließlich begann sie eine Affäre mit dem verheirateten Arthur Glencross – mit offenbar tödlichen Folgen. Alma ist über diesen Verlust nie hinweggekommen. 
„Sie ließ sich aus reiner Vergesslichkeit die Haare wachsen, bis sie zu lang für die Küchenarbeit waren; ihre Gedanken richteten sich nun schon so viele Wochen und Monate auf anderes, doch als sie in einem Badezimmerspiegel die volle Haarlänge sah, beschloss sie auf der Stelle, sie für immer wachsen zu lassen. Sie hatte die heilige Eingebung, dass Haar von geradezu unwirklicher Länge eine öffentliche, hingebungsvolle Ehrung der Toten wäre, der Toten und ihrer eigenen Mission, für die Gestorbenen Gerechtigkeit oder Rache zu erwirken, das eine oder das andere, aber am liebsten beides.“ (S. 115f.) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell ist ein Meister der geschliffenen Sprache. Das hat er mit seiner „Bayou“-Trilogie ebenso bewiesen wie mit den erfolgreich verfilmten Bestsellern „Wer mit dem Teufel reitet“ und „Winters Knochen“ sowie dem mit dem P.E.N. ausgezeichneten Roman „Tomatenrot“. In dem 2014 auch auf Deutsch erschienenen Roman „In Almas Augen“ erzählt er weniger einen auf wahren Begebenheiten beruhenden Krimi oder die Biografie einer alten Frau, die zu viel Schreckliches in ihrem Leben verarbeiten musste, sondern letztlich das Portrait einer Kleinstadt in den Ozarks, Missouri, wo Woodrell auch seine Romane „Winters Knochen“ und „Der Tod von Sweet Mister“ spielen lässt. Nicht von ungefähr spielen die Ereignisse im Jahr 1929, als der New Yorker Börsencrash die Schere zwischen Arm und Reich noch stärker auseinanderklaffen ließ. 
Auch wenn Woodrell einen Ich-Erzähler einsetzt und durch ihn zunächst die Lebensgeschichte dessen Großmutter präsentieren lässt, erweist sich „In Almas Augen“ als ein vielschichtiges Potpourri von Einzelschicksalen. Da ist die fünfzehnjährige Dimple Powell, die schon ein ganzes Jahr lang in ihrem Zimmer tanzen geübt hatte und hoffte, auf dem Fest von Jungs auch zum Tanzen aufgefordert zu werden, oder Mr. Lawrence Meggs, der stets Säcke mit Lockfutter in die Bäume am Rand seines Hofs hängte und im Alter von siebzehn Jahren bei seinen Cousins in Cousins zwei Laster kennenlernte, denen er bis heute frönt, dem Alkohol und den Frauen. Es gibt den unfähigen Prediger und den Bankräuber, der sich Irish Flannigan nannte. Woodrell reiht die oft nur kurze Kapitel umfassenden Einzelschicksale in nicht chronologischer Reihenfolge aneinander und entwirft so ein komplexes Panorama eines Kleinstadtlebens, das sich letztlich auf eine unglückselige Liebesgeschichte mit fatalen Folgen reduzieren lässt. 
Wer sich auf die vielen Sprünge zwischen Zeiten und Figuren einlassen mag, wird mit einer großartig erzählten Geschichte belohnt, die jede Konvention sprengt, dafür den Leser mit scharfsinnigen Beobachtungen und entfesselter Sprachgewandtheit verwöhnt.  

Daniel Woodrell – „Winters Knochen“

Sonntag, 7. März 2021

(Liebeskind, 224 S., HC) 
Als ihr Vater, der weithin bekannte Meth-Kocher Jessup Dolly, nicht wie versprochen mit einer Tüte voller Geld und schöner Sachen zurückkommt, nachdem er sich mit seinem blauen Capri auf den Weg gemacht hatte, liegt es an der gerade mal sechzehnjährigen Ree, die Familie zu versorgen. Dabei fehlt es der in ärmlichen Verhältnissen im Hinterland von Missouri lebenden Familie an allem. Während ihre katatonische Mutter sich um nichts mehr kümmern kann, sorgt Ree dafür, dass ihre jüngeren Brüder Harold und Sonny zu essen bekommen und zur Schule gefahren werden. 
Von Deputy Baskin erfährt Ree, dass Jessup einmal mehr angeklagt wird, in einer Woche zu seinem Gerichtstermin erscheinen muss, doch nirgends aufzufinden ist. Sollte er zu dem Termin nicht erscheinen, verfällt die gestellte Kaution, für die Jessup das Haus und den angrenzenden Wald verpfändet hat. Um das Heim ihrer Familie nicht zu verlieren, bleibt Ree nichts anderes übrig, als nach ihrem Vater zu suchen. 
Sie fängt bei Jessups älteren Bruder, Onkel Teardrop, doch wird ihr auch auf den weiteren Stationen ihrer Suche unmissverständlich klar gemacht, dass sie besser ihre Finger von der Sache lässt. Von Merab Milton und ihren Schwestern wird sie sogar brutal zusammengeschlagen. Schließlich kann Onkel Teardrop gerade noch Schlimmeres verhindern. Ree kommt immer mehr zu der Überzeugung, dass ihr Vater tot ist, doch um das zu beweisen und damit ihr Zuhause zu retten, muss sie die Leiche finden, so zerschunden ihr Körper und angegriffen ihre Psyche auch sein mag … 
„Alles Mögliche tanzt einem im Kopf herum, meist nicht jene Erinnerungen, die man mit ganz bestimmten Gedanken zurückzurufen versucht hat, doch meist holen selbst die ungewollt tänzelnden Gedanken Gefühle herbei, locken sie hervor oder lassen zumindest ein Gewirr davon zurück. Weiß legte sich auf das Fensterbrett, Schneeflocken stolzierten umher, wehten gegen die Glasscheiben, und Ree tastete mit der Hand auf dem Fußboden herum, schüttelte eine weitere blaue Tablette heraus, lehnte sich zurück und wartete auf das schwarze Loch.“ (S. 187) 
Nachdem der in St. Louis und Kansas City aufgewachsene Daniel Woodrell seinen freiwilligen Dienst bei den Marines und das College absolviert hatte, nahm er am renommierten Iowa Writers' Workshop teil und lieferte 1986 sein Romandebüt „Cajun Blues“ ab, den ersten Teil seiner Bayou-Trilogie. Sein Roman „Wer mit dem Teufel reitet“ wurde ebenso verfilmt (1999 durch Ang Lee) wie das vorliegende Buch 2010 durch Debra Granik mit Jennifer Lawrence in der Hauptrolle. 
Obwohl die Geschichte gerade mal 220 Seiten umfasst, packt sie den Leser von der ersten Seite an. Das ist vor allem Woodrells kraftvoller, farbenprächtiger Sprache zu verdanken, aber schließlich hat er mit der leiderprobten Teenagerin Ree auch eine charismatische, kämpferische und willensstarke Protagonistin geschaffen, die sich nicht nur aufopferungsvoll um ihre Familie kümmert, sondern auch unbeirrt nach ihrem verschollenen Vater sucht, wobei sie sich nicht mal von der brutalen Behandlung durch ihre entfernte Verwandtschaft abschrecken lässt. 
Dem Autor gelingt es, die von Hügeln und Tälern geprägte Landschaft der Ozarks wunderbar zur Geltung zu bringen und die oft unwirtlichen Verhältnisse mit den schwierigen Charakteren des White-Trash-Milieus zu verknüpfen. Hier fügen sich Sittenzusammengehörigkeit und Verdorbenheit zu einem schicksalhaften Gemisch, das eigentlich kein Happy End hervorbringen kann. So unerbittlich kalt die Natur sich hier im Winter präsentiert, so hart gehen auch die dort lebenden Menschen miteinander um, die sich allesamt mit illegalen Aktivitäten ihren Lebensunterhalt verdienen oder davon profitieren wie die Kautionsagenten. Unter diesen Bedingungen lässt es sich nur leben, wenn die strengen Regeln der eingeschworenen Gemeinschaft eingehalten werden, oder man stark genug ist, für die eigenen Überzeugungen durch die Hölle zu gehen.  

David Baldacci – (Amos Decker: 4) „Downfall“

Donnerstag, 4. März 2021

(Heyne, 528 S., HC) 
Da Amos Decker, verwitweter und nach wie vor alleinstehender Special Agent beim FBI, nicht weiß, wie er den von seinem Chef Bogart verordneten Zwangsurlaub von seinem Dienst in der Sondereinheit in Washington verbringen soll, nimmt er die Einladung seiner Partnerin Alex Jamison an und begleitet sie zu ihrer Schwester Amber nach Baronville ins nördliche Pennsylvania. Dort feiert Alex‘ Nichte Zoe ihren sechsten Geburtstag. Amber und Zoe sind erst vor kurzem in die einst blühende Bergbaustadt gezogen, die ihren Namen den Barons verdankt, die in der Stadt etliche Minen und Fabriken gegründet haben. Doch von dem alten Glanz ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die Minen und Fabriken sind geschlossen, etliche Häuser stehen nach ihrer Zwangsversteigerung leer. Amber und Zoe sind erst vor kurzem in die Stadt gezogen, weil Ambers Mann einen gut bezahlten Job als Manager im neuen Logistikzentrum bekommen hat. 
Kurz nach seiner Ankunft im Haus der Mitchells bemerkt Decker im Nachbarhaus ein seltsames Flackern und geht mitten im aufziehenden Sturm dem Ursprung nach. Schließlich entdeckt er einen Kurzschluss als Ursache der merkwürdigen Lichtblitze, die auslösende Flüssigkeit, die mit freiliegenden Leitungen in Berührung gekommen ist, entpuppt sich allerdings als Blut. Doch Decker und die ihm nachgeeilte Jamison entdecken noch mehr, ein Mann hängt von der Decke, doch weist er keine äußeren Verletzungen auf. Bei der weiteren Durchsuchung des Hauses entdeckt Decker im Keller eine weitere Leiche, einen Mann im Keller – in Polizeiuniform. 
Als die örtliche Polizei eingeschaltet wird, wollen die Detectives Marty Green und Donna Lassiter nichts von einer Unterstützung durch das FBI wissen, doch Decker lässt sich in seinem Urlaub nicht davon abbringen, auf eigene Faust zu ermitteln. Als ein weiterer Doppelmord an verdeckt ermittelnden DEA-Agenten entdeckt wird, übernimmt die DEA die Ermittlungen, wobei die leitende Agentin Kemper aber die Beteiligung der beiden FBI-Agenten duldet. Decker nimmt sich die drei einzigen Nachbarn in der Nähe des Tatorts vor und erfährt, dass mit dem mittlerweile verarmten John Baron nur noch ein Nachfahre des Baron-Clans in der Stadt lebt. Obwohl er in der Befragung verneint, auch nur eine der getöteten Personen zu kennen, finden Decker & Co. bald heraus, dass dem nicht so ist. Baronville scheint fest in der Hand eines boomenden Handels mit Opiaten zu sein, die Bewohner einen immensen Hass gegen den in der Stadt verbliebenen John Baron zu verspüren. 
Decker glaubt jedoch nicht, dass Baron für die Morde verantwortlich ist, die ihm offensichtlich in die Schuhe geschoben werden sollen, doch bei seinen Ermittlungen bringt er sich selbst in die Schusslinie der skrupellosen Drogenhändler … 
„Ging es hier nur um Drogen? Viele Menschen waren wegen Drogen gestorben. Und allen Berichten zufolge befand sich Baronville in den Klauen derselben Opioid-Krise, die auch andere Teile des Landes terrorisierte. Anscheinend waren er und Jamison mittendrin gelandet.“ (S. 228) 
Seit Lee Child mit seinem charismatischen Ex-Militärpolizei-Ermittler Jack Reacher den Prototyp des einzelgängerischen Super-Ermittlers etabliert hat, sind auch Bestseller-Autor David Baldacci einige interessante Figuren in den Sinn gekommen, die er in verschiedenen Reihen zum Zuge kommen lässt. Ein besonderes Highlight stellt dabei die Serie um den „Memory Man“ Amos Decker dar, einem 1,95 Meter großen Hünen, der seit einer schweren Kopfverletzung beim Football über ein fotografisches Gedächtnis verfügt und zudem bestimmte Farben mit Zahlen, Orten, Gegenständen oder Emotionen verbinden kann. Vor allem sein fotografisches Gedächtnis kommt Decker auch in „Downfall“ zugute. Ähnlich wie Lee Child seinen Protagonisten immer wieder an abgelegenen Orten ungewöhnliche Fälle lösen lässt, schickt auch Baldacci hier Decker an einen an sich unscheinbaren, eher heruntergekommenen Ort, wo sich gleich mehrere untypische Todesfälle ereignen. Der Autor inszeniert dabei einen raffiniert und dich gewobenen Plot, der nicht nur DEA, FBI und örtliche Polizei – mit den üblichen Vorbehalten gegenüber der jeweils anderen Behörden - gemeinsam ermitteln lässt, sondern auch ein typisches Bild amerikanischer Städte zeichnet, die einst von dem Zustrom an Arbeitern zu den neu gegründeten Fabriken profitiert haben und dann durch den Niedergang der Industrie und die Bankenkrise von Leerstand, Armut und Drogenabhängigkeit heimgesucht wurden. 
Vor diesem Hintergrund bietet „Downfall“ einen hochkomplexen Kriminalfall mit ebenso vielen Opfern und Tätern, und nach und nach ist es natürlich vor allem Decker, der die nach und nach freigelegten Puzzleteile zu einem ebenso stimmigen wie verstörenden Gesamtbild zusammenfügt. Neben dem durchweg fesselnden Kriminalfall räumt Baldacci seinem außergewöhnlichen Ermittler aber auch einige persönliche Momente ein, denn eine weitere Kopfverletzung während seiner Zeit in Baronville lässt ihn nun auch empathischer für das Schicksal seiner Mitmenschen werden. 
So präsentiert sich „Downfall“ als perfekter Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen mag! 

Benedict Wells – „Hard Land“

Freitag, 26. Februar 2021

(Diogenes, 346 S., HC) 
Eigentlich haben seine Eltern geplant, den 15-jährigen Sam über den Sommer im Jahr 1985 zu Tante Eileen und seinen beiden verhassten Cousins nach Kansas zu schicken, doch um diesem Schicksal zu entgehen, nimmt der Teenager in seiner kleinen Heimatstadt Grady, Missouri, lieber einen Job in dem alten Kino „Metropolis“ an, das Ende des Jahres schließen soll. Zwar hat der zurückhaltende Sam bei seinen älteren Kollegen Cameron, Hightower und Kirstie zunächst einen schweren Stand, aber da sie gerade ihren Abschluss gemacht haben, werden sie im Herbst ohnehin aus Grady wegziehen. 
Die Stadt ist eigentlich nur für zwei Dinge bekannt: für die ominösen 49 Geheimnisse, die Gradys Besucher zu entdecken animiert werden, und den 1893 veröffentlichten Gedicht-Zyklus „Hard Land“, der für jede Junior-Klasse zum Pflichtprogramm bei „Inspector“ Mr. Parker gehört, der die Schüler den Jahresaufsatz über die „Geschichte des Jungen, der den See überquerte und als Mann wiederkam“ schreiben ließ. Hartnäckige Gerüchte besagen, dass es in all den Jahren bisher nur eine Eins für den Aufsatz gegeben habe. 
Während Sam allmählich beginnt, zu Cameron und Hightower eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen und sich in Kirstie zu verlieben, fühlt er sich in familiärer Hinsicht nach wie vor allein gelassen. Am meisten bedrückt ihn die Krebserkrankung seiner Mutter, die einen kleinen Buchladen führt, aber durch die Therapie immer wieder sehr geschwächt ist. Sein Vater ist arbeitslos und wirkt meist sehr verschlossen, seine Schwester Jean war vor Jahren schon nach Los Angeles gezogen, um für eine Fernsehserie Drehbücher zu schreiben. Sam liebt es, mit seinen neuen Freunden über Filme und Musik zu philosophieren und mit ihnen abzuhängen, und er kann kaum seinen 16. Geburtstag abwarten, weil er dann endlich in Larrys Bar gehen darf. Doch dann hat Sam in diesem so verheißungsvoll begonnenen Sommer eine Katastrophe nach der anderen zu überstehen … 
„Jeder hatte seine Geschichte, aber es ging weiter, es kam trotzdem wieder der Sommer, und ich betrachtete die Kinder, die diskutierend auf ihren Tretrollern an mir vorbeifuhren, die alte Frau, die ihren Hund spazieren führte, und das Spinnennetz an der Bushaltestelle, das sich sanft im Wind auf und ab bewegte … Auf einmal vermischten sich all meine Erinnerungen und Gedanken zu einem einzigen Gefühl, zu einem: Es ist okay, zumindest für diesen Moment.“ (S. 317) 
Für seinen neuen Roman ließ sich der 1984 geborene Benedict Wells durch Filme inspirieren, die zur Zeit seiner Geburt großen Erfolg hatten, vor allem die Coming-of-Age-Filme von John Hughes („Das darf man nur als Erwachsener“, „The Breakfast Club“, „Pretty in Pink“, „Ist sie nicht wunderbar?“). In diesem leichten Ton, den Drehbuchautor/Regisseur/Produzent Hughes in seinen Filmen angeschlagen hat, erzählt Wells auch die Geschichte eines bemerkenswerten Sommers, den sein 15-jähriger Protagonist erlebt hat und in dem er von einem Jungen zum Mann wurde. Dazu gehört vor allem die erste große Liebe und das Fachsimpeln mit Freunden über Filme und Musik, aber auch das Verarbeiten des Verlusts von geliebten Menschen.  
Wells schreibt über eine Zeit, in der das gesellschaftliche Leben in einer US-amerikanischen Kleinstadt vor einem fundamentalen Wandel steht. Die Fabriken, die einst für Arbeit und Wohlstand gesorgt haben, sind längst geschlossen, die Menschen weggezogen oder arbeitslos, Kinos und Kneipen stehen vor dem Aus. Zwar bemüht Wells typische Filme wie George Lucas‘ „American Graffiti“ und Robert Zemeckis‘ „Zurück in die Zukunft“, webt vertraute Acts wie Billy Idol, INXS, Simple Minds und a-ha in den Plot (die er zu einer Playlist für den „Hard Land“-Soundtrack auch auf den vertrauten Musik-Streaming-Diensten zur Verfügung stellt), aber wirken diese filmischen wie musikalischen Zitate eher wie Dekoration, um der Ära, in der die Geschichte spielt, ein passendes Ambiente zu verleihen. 
Als weitaus wirkungsvoller erweisen sich die Elemente, die der Autor eigenständig in die Geschichte einfließen lässt, nämlich die „49 Geheimnisse“ (die zufälligerweise auch in der Anzahl der Kapitel widergespiegelt werden) und der an Allegorien reiche Gedicht-Zyklus, der „Hard Land“ seinen Namen verdankt. In der wiederkehrenden Auseinandersetzung sowohl mit den allmählich entschlüsselten „Geheimnissen“ als auch mit dem Gedicht-Zyklus entwickelt sich der besondere Ton der Geschichte, die an sich wenig spektakulär ist, schließlich hat jeder Jugendliche mehr oder weniger schwierige Erfahrungen mit der ersten großen Liebe, Enttäuschungen und Verlusten zu machen, deren Bewältigung zum Erwachsenwerden dazugehören. 
„Hard Land“ präsentiert sich so als absolut typische Coming-of-Age-Geschichte ohne große Überraschungen, aber mit ein paar schönen Einfällen wie die Prüfungen, die Kirstie Sam zu seinem Geburtstag aufgibt.  
Wells‘ neuer Roman ist nicht der ganz große Wurf geworden, wie der Autor nach seinen vorangegangenen Werken wie „Fast genial“ und „Vom Ende der Einsamkeit“ hoffen ließ, aber es ist wenigstens eine ebenso vergnügliche, manchmal verzaubernde wie nachdenkliche Geschichte über das Erwachsenwerden.  

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 7) „Mittsommermord“

Montag, 22. Februar 2021

(Zsolnay, 603 S., HC) 
Am 22. Juni 1996 feiern drei junge Freunde an einem geheimen Ort im Naturreservat ihr ganz privates Mittsommerfest, wobei sie sich in die Zeit des Rokokopoeten Bellman hineinversetzen, sich entsprechend verkleiden und verschiedene Aufnahmen von „Fredmans Episteln“ hören. Allerdings kehren Astrid Hillström, Martin Boge und Lena Norman nicht nach Hause zurück. Stattdessen scheinen sich die drei jungen Leute unbemerkt auf eine spontane Europareise begeben zu haben, doch Eva Hillström glaubt nicht, dass die Postkarten aus Hamburg, Paris und Wien nicht von ihrer Tochter geschrieben worden seien. Als sie ihren Verdacht im Polizeipräsidium von Ystad zu Protokoll gibt, ist Kriminalkommissar Kurt Wallander gerade damit beschäftigt, das Haus seines vor zwei Jahren verstorbenen Vaters zu verkaufen und sich um seinen gerade diagnostizierten Diabetes zu kümmern. 
Als sein Kollege Svedberg erschossen in seiner Wohnung aufgefunden wird, wird bald ein Zusammenhang mit den drei Jugendlichen deutlich, die kurz darauf tot im Naturreservat bei Ystad gefunden werden. Offenbar hat Svedberg während seines Urlaubs auf eigene Faust das Verschwinden der Jugendlichen untersucht und wurde wahrscheinlich vom selben Täter erschossen wie die verkleideten Jugendlichen. Wallander muss während der Ermittlungen feststellen, dass er Svedberg nicht gut kannte, während der getötete Kollege Wallander offenbar als seinen besten Freund bezeichnet hatte. 
Das Motiv des Täters bleibt unklar. Weder Svedbergs nächsten Verwandten, seine Schwester Ylva Brink und sein Cousin Sture Björklund, noch der pensionierte Bankdirektor Bror Sundelius, mit dem Svedberg zusammen die Sterne betrachtete, bringen die Ermittlungen wesentlich voran. Zu denken gibt Wallander, dass Svedberg eine Frau namens Louise getroffen haben soll, die allerdings spurlos verschwunden bzw. unbekannt zu sein scheint. 
„Wallander war ratlos. Doch im Grunde genommen war er noch nicht wieder imstande zu denken. Das Geschehene lähmte ihn. Wer konnte drei Jugendliche töten, die sich verkleidet hatten, um zusammen Mittsommer zu feiern? Es war die grauenhafte Tat eines Wahnsinnigen. Und im Umfeld dieser Wahnsinnstat, entweder an ihrem Rand oder in der Nähe ihres Zentrums, hatte sich ein weiterer Mensch befunden, der jetzt ebenfalls tot war. 
Svedberg. Was hatte er damit zu tun? Auf welche Weise war er in die Sache verwickelt?“ (S. 193) 
Als dann noch ein Mädchen ermordet wird, das die drei getöteten Jugendlichen beim Mittsommerfest eigentlich begleiten sollte, wegen einer Magenverstimmung aber zuhause bleiben musste, dann noch ein frisch vermähltes Hochzeitspaar und ihr Fotograf am Strand erschossen werden, bekommen Wallander & Co. zunehmend das Gefühl, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben, der das Glück anderer Leute schwer ertragen kann … 
Mit seinem siebten Band um den charismatischen, wenn auch übergewichtigen Kommissar Kurt Wallander hat der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell seinen bis dahin vielleicht besten Thriller abgeliefert. Das liegt vor allem an dem raffiniert konstruierten Plot, bei dem zwar schnell deutlich wird, dass der Mord an den drei Jugendlichen zum Mittsommerfest und die Ermordung von Wallanders Kollegen Svedberg irgendwie zusammenhängen, aber die Verbindung lässt sich lange Zeit nur erahnen und kristallisiert sich nur sukzessive durch einzelne Puzzlestücke heraus. 
Mankell nutzt die grausamen Taten einmal mehr dazu, seinen Protagonisten über die Verrohung der schwedischen Gesellschaft und die Budgetkürzungen bei der Polizei lamentieren zu lassen, doch die betrüblichen Umstände lassen Wallander letztlich doch wacker weiter seinen Dienst tun, um deutlich Flagge zu zeigen im Kampf gegen das Verbrechen. Privates bleibt im immerhin 600-seitigen Thriller weitgehend außen vor, im Mittelpunkt steht hier vor allem Wallanders Kampf gegen den Diabetes. Während Mankell ausführlich die schwierige Ermittlungsarbeit von Wallander und seiner Mannschaft beschreibt, rückt er gelegentlich auch die Perspektive des Täters in die Handlung ein, doch sind die polizeilichen Aktivitäten weit packender inszeniert und machen „Mittsommermord“ zu einem echten Pageturner.  

Wieland Schwanebeck – „James Bond. 100 Seiten“

Samstag, 20. Februar 2021

(Reclam, 102 S., Tb.) 
Seit Ian Fleming (1908-1964) nach seiner Karriere als Journalist und Wertpapierhändler 1953 damit begann, Romane und Kurzgeschichten um den britischen Geheimagenten James Bond zu verfassen, ist Bond seit dem ersten 007-Kino-Abenteuer „James Bond jagt Dr. No“ (1962) zu einem internationalen Markenzeichen avanciert, das vor allem die Sicht, wie ein echter Kerl zu sein hat, bis heute prägt. 
Bevor der 25. Bond-Film „Keine Zeit zu sterben“ verspätet in diesem Jahr in die Kinos kommt, ist der anglistische Kultur- und Literaturwissenschaftler Wieland Schwanebeck in dem bereits bewährten 100-Seiten-Format der entsprechenden Reclam-Reihe dem Phänomen „James Bond“ auf ebenso unterhaltsame wie tiefgründige Weise auf den Grund gegangen. 
Darin wird eingangs das Phänomen untersucht, wie James Bond als eine Art Übermensch jeden Versuch der Schurken, ihn ins Jenseits zu befördern, auf ebenso coole wie stilvolle Weise zu parieren vermag und dabei so ikonische Szenen prägt, als er beispielsweise in „Der Spion, der mich liebte“ (1977) auf Skiern mit einem Fallschirm einen Abhang hinunterrast und seinen verblüfften Verfolgern beim Sprung in den vermeintlich tödlichen Abgrund den Union Jack auf dem Fallschirm präsentiert. Natürlich gibt es viele weitere Themen in der über 60-jährigen Erfolgsgeschichte von James Bond, über die sich vortrefflich referieren lässt. 
Dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, dass die Physik der Filme unwissenschaftlich sei, die oft exotischen Kulissen eigentlich zu schön sind, um wahr zu sein, und Bond immer genau die Gadgets von Q zur Verfügung gestellt werden, die er für seine Mission definitiv brauchen wird – ohne auch nur eines unbenutzt zurückgeben zu müssen. Der Autor umreißt kurz Flemings Werdegang und Persönlichkeit, dann den Beginn der Roman-Adaptionen für Film und Fernsehen, den weltweiten Siegeszug der Produktionen von Harry Saltzman und Albert R. Broccoli, die wichtige Mischung aus Vertrautem und Innovation und das bewährte Baukastenprinzip der Bond-Filme, bei denen stets Fragen nach den Schurken, der Hilfsmittel und Verkehrsmittel im Fokus stehen. 
Schwanebeck markiert die Bedeutungen, die die einzelnen Bond-Darsteller im 007-Universum einnehmen, erwähnt aber auch die Geschichten, die jenseits bewährter Konzepte erzählt werden: 
Diamantenfieber, in dem es James Bond mit schwulen Killern zu tun bekommt und sich durch eine Vielzahl enger, morastiger Löcher quetschen muss, ist eine Geschichte von Homophobie und männlichem Selbstzweifel; Goldfinger handelt von der Kluft zwischen reiner Schaulust und dem Wunsch anzufassen und mitzumachen; und Skyfall lässt sich auch ohne Diplom in Psychoanalyse als eine Geschichte über gestörte Eltern-Kind-Beziehungen lesen und über die Unmöglichkeit, nach Hause zurückzukehren.“ (S. 32) 
Schwanebeck weist natürlich auch auf den Zusammenhang zwischen dem britischen hegemonialen Anspruch, die Welt zu retten, und James Bonds auffallend üppigen sexuellen Appetit hin, womit sowohl Fleming als auch die Filmemacher auf den Bedeutungsverlust des britischen Empires reagiert haben. Das Verhältnis zwischen Bond, den Superschurken und vor allem zu den Bond-Girls nimmt ebenso ein eigenes Kapitel ein wie die offensichtliche Notwendigkeit, im Titel eines Bond-Films auf Tod, Sterben und die Endlichkeit des Daseins hinzuweisen. 
Verschiedene Übersichten, vereinzelte Schwarz-Weiß-Illustrationen und Literaturtipps runden das kleine, aber höchst aufschlussreiche Bändchen ab, das sich auch für Fans lohnt, die bereits alles über ihren Lieblings-Superhelden zu wissen glauben.  

Stephen King – „Brennen muss Salem“

Samstag, 13. Februar 2021

(Zsolnay, 480 S., HC) 

Der erfolgreiche Schriftsteller Ben Mears kehrt nach 25 Jahren wieder in seine Heimatstadt Jerusalem’s Lot, eine Kleinstadt östlich von Cumberland und zwanzig Meilen nördlich von Portland, zurück, die 1970 bei einer Volkzählung 1319 Einwohner zählte und oft nur kurz Salem’s Lot oder sogar nur The Lot genannt wird. Mears, der seine Frau Miranda bei einem Motorradunfall verloren hatte, ist vor allem von dem Marsten-Haus fasziniert. Seit der ehemalige Besitzer Hubert Marsten dort erst seine Frau und dann sich selbst ermordete, gilt es als Spukhaus, das Mears im Rahmen einer Mutprobe betreten hatte, wobei er glaubte, Hubert Marsten lebend am Strick baumelnd gesehen zu haben. 
Als Mears nun das Marsten-Haus mieten will, um sich seinen Ängsten zu stellen und seine Erfahrungen mit dem Haus in seinem neuen Roman zu verarbeiten, muss er überrascht feststellen, dass das seit Jahren leerstehende und heruntergekommene Haus bereits verkauft ist – an die beiden Antiquitätenhändler Kurt Barlow und Richard Straker, die in der Stadt ein Geschäft eröffnen wollen. Also mietet sich der Schriftsteller in der Pension von Eva Miller ein und lernt bald die hübsche Susan Norton kennen, die im Park seinen zweiten Roman „Lufttanz“ in der Hand hält. 
Obwohl Susan eigentlich noch mit Floyd Tibbets liiert ist, beginnt sie eine Affäre mit dem Schriftsteller, der aber nicht viel Zeit bekommt, sich dem Mädchen gebührend zu widmen, denn schon bald wird Salem’s Lot von einer Reihe erschreckender Ereignisse heimgesucht. Erst wird ein Hund aufgespießt am Friedhofszaun aufgefunden, dann verschwindet der Junge Ralphie Glick, nachdem er mit seinem Bruder Danny ihren Freund Mark Petrie besuchen wollte. Danny kommt zwar nach Hause, kann sich aber an nichts erinnern und wird wenig später ins Krankenhaus eingeliefert, wo er an Blutarmut stirbt. Als der Totengräber mit Bisswunden am Hals aufgefunden wird, sehen sich Ben Mears, der Englischlehrer Matt Burke, der Priester Callahan und Doc Cody in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Salem’s Lot wurde von Vampiren heimgesucht, die getötet werden müssen, bevor sie die Stadt ausgerottet haben … 
„Und dann war es Nacht, und die Stadt war verschwunden, aber das Feuer loderte immer noch in der Finsternis, durchlief faszinierende, kaleidoskopartige Formen, bis es ein Gesicht aus Blut zu zeichnen schien – ein Gesicht mit einer Adlernase, tiefliegenden, glühenden Augen, vollen und sinnlichen Lippen, die zum Teil von einem dichten Schnurrbart verborgen wurden, und Haaren, die wie bei einem Musiker nach hinten gekämmt waren.“ (S. 418) 
Obwohl „Brennen muss Salem“ nach „Carrie“ der zweite, 1975 veröffentlichte Roman von Stephen King gewesen ist, muss er eigentlich als sein Debüt betrachtet werden, wurde der Vampir-Roman doch vor „Carrie“ fertiggestellt und basiert auf den Ereignissen im 19. Jahrhundert, die King in seiner Kurzgeschichte „Briefe aus Jerusalem“ (veröffentlicht in der Stephen-King-Kurzgeschichten-Sammlung „Nachtschicht“) thematisiert hatte. Dabei sind vor allem die Bezüge zu Bram Stokers klassischem Vampir-Drama „Dracula“ unübersehbar. King erweist sich bereits in diesem frühen Werk als Meister des subtilen Horrors, der sich fast unbemerkt in den Alltag ganz gewöhnlicher Menschen schleicht. 
Der Autor nimmt sich nahezu 100 Seiten Zeit, um die Ankunft des Schriftstellers in Jerusalem’s Lot und die Stadt mit ihren Einrichtungen und Bewohnern zu beschreiben, so dass sich der Leser leicht mit den sorgfältig beschriebenen Figuren identifizieren kann. Die kurze Liebschaft zwischen Ben Mears und Susan Norton ähnelt sehr der zwischen Jonathan Harker und seiner Verlobten Lucy Westenra. Beide Frauen müssen von ihren Geliebten gepfählt werden, um dem Dasein als untote Vampire zu entgehen. Und auch die beiden Vampire Richard Straker und Kurt Barlow verweisen namentlich bzw. dem Aussehen nach auf die Hauptfiguren in Bram Stokers Roman, nur dass King das Geschehen von Transsylvanien nach Maine und ins 20. Jahrhundert verlegt hat. Neben der spannenden Geschichte, die später u.a. von Tobe Hooper 1979 mit James Mason in der Hauptrolle verfilmt worden ist, überzeugen vor allem die fein gezeichneten Figuren und die gekonnte Dramaturgie des Untergangs einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt durch Vampire.  

Michael Connelly – (Harry Bosch: 11) „Vergessene Stimmen“

Freitag, 5. Februar 2021

(Heyne, 478 S., HC) 
Nachdem Detective Hieronymus „Harry“ Bosch vor drei Jahren frustriert den Dienst beim Los Angeles Police Department quittiert hatte, bekommt er erstmal seit seiner Abschlussfeier an der Polizeiakademie im Jahr 1972 einen Zwei-Sechser, einen dringenden Anruf aus dem Büro des Polizeichefs im Parker Center. Seine ehemalige Partnerin Kizmin „Kiz“ Rider hatte sich dafür eingesetzt, Bosch wieder zu reaktivieren und mit ihm zusammen in der neu gegründeten Abteilung Offen-Ungelöst ungeklärte Kapitalverbrechen wieder aufzurollen. 
Ihr erster gemeinsamer Fall führt sie ins Jahr 1988 zurück, als die 16-jährige Rebecca Lost in der Nähe ihres Elternhauses tot aufgefunden wurde, die neben ihr liegende Pistole sollte offensichtlich auf einen Selbstmord verweisen, von dem die damals ermittelnden Detectives Garcia und Green auch zunächst ausgegangen waren. Durch die neu entwickelte Methode der DNS-Analyse konnte mittlerweile ein Hautfetzen am Verschlussstück der Waffe dem Kleinkriminellen Roland Mackey zugeordnet werden, dem allerdings bislang keine Gewaltverbrechen angelastet werden konnten. 
Obwohl Bosch Mackey nicht für den Täter hält und auch keine Verbindung zwischen ihm und dem Opfer herstellen kann, hängt er sich mit seiner Partnerin in den Fall rein, lässt Mackey observieren und findet einen Zusammenhang zum rassistischen Milieu. Doch nicht nur das: Offensichtlich war Boschs Erzfeind, der damalige Polizeichef Irvin Irving, darin verwickelt, die Ermittlungen von Green und Garcia in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dass Bosch Irving gleich an seinem ersten Diensttag in der Cafeteria über den Weg läuft, hält er nicht für einen Zufall. Rider und Bosch machen sich an die mühsame Arbeit, die damals ermittelnden Beamten, Rebeccas durch den Todesfall geschiedenen Eltern, alte Freundinnen und Freunde sowie Lehrer zu befragen, doch ergeben sich keine weiteren Erkenntnisse, die Mackey als Täter entlarven, zumal er über ein Alibi für die Tatnacht verfügt. 
Durch eine Titelstory über die neuen Ermittlungen zu Rebeccas Ermordung in der Zeitung, in der zwar der DNS-Beweis, aber nicht Mackeys Namen erwähnt wird, erhoffen sich die Detectives, dass der Täter aufgescheucht wird, doch dann nehmen die Dinge einen ganz unerwarteten Lauf, wobei Bosch wieder auf Irving stößt … 
„Die Public Disorder Unit. Eine dubiose Downtown-Einheit, die Daten und Geheiminformationen über Verschwörungen sammelte, aber wenig Fälle vor Gericht brachte. 1988 müsste die PDU dem damaligen Commander Irvin Irving unterstanden haben. Inzwischen gab es die Einheit nicht mehr. Als Irving zum Deputy Chief befördert wurde, löste er die PDU sofort auf, wobei viele bei der Polizei glaubten, das habe in erster Linie dem Zweck gedient, ihre Machenschaften zu vertuschen und sich von ihnen zu distanzieren.“ (S. 186) 
Harry Bosch ist wieder da, wo er hingehört, um an vorderster Front beim LAPD Mordfälle aufzuklären. Nachdem er sich einige Jahre als Privatermittler (in „Letzte Warnung“ und „Die Rückkehr des Poeten“) durchgeschlagen und sich auch um private Belange wie der schwierigen Beziehung zu seiner Ex-Frau Eleanor Wish kümmern konnte, rollt er nun mit seiner ehemaligen Partnerin Kiz Rider ungelöste Mordfälle auf, wobei der vermeintlich leichte erste Fall kaum überraschend dazu führt, dass sich Bosch und sein früherer Chef Irving wieder in die Quere kommen. 
Michael Connelly beweist mit „Vergessene Stimmen“, dem mittlerweile elften Fall von Harry Bosch, einmal mehr, warum er zu den absolut besten Autoren im Genre des Kriminal-Thrillers zählt. Souverän gelingt es dem ehemaligen Polizeireporter, die Ermittlungen seines charismatischen Protagonisten sehr kleinschrittig und detailliert zu beschreiben, ohne den Leser zu langweilen. 
Stattdessen fühlt sich der Leser als direkter Beobachter der Ermittlungen, die sukzessive eine feine Spannung aufbauen. Boschs Privatleben steht diesmal nahezu vollständig außen vor. Außer der kurzen Erwähnung, dass seine Ex-Frau einen Job in Hongkong angenommen und ihre gemeinsame sechsjährige Tochter mitgenommen hat, und ein One-Night-Stand mit einer früheren Kollegin gibt es an dieser Front nichts zu vermelden. Stattdessen bringt Connelly sehr schön zum Ausdruck, wie Bosch für den neuen Fall brennt, wie der Cop aus Leidenschaft die titelgebenden „vergessenen Stimmen“ der Toten nicht verstummen lassen und für Gerechtigkeit und Aufklärung sorgen will. 
Dass der Fall am Rand auch die rassistische Thematik aufgreift, verleiht der Story noch einen gesellschaftskritischen Touch. Und das Finale weist ein Tempo und Wendungen auf, die die zähe Ermittlungsarbeit endlich belohnt und die Leserschaft gespannt auf die nächsten Bosch-Fälle warten lässt.


Jo Nesbø – (Harry Hole: 2) „Kakerlaken“

Sonntag, 31. Januar 2021

(Ullstein, 410 S., Tb.) 
Als Atle Molne, der norwegische Botschafter in Thailand, mit einem Messer im Rücken auf dem Bett eines eher zwielichtigen Etablissements in Bangkok aufgefunden wird, soll Bjarne Møller, Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen in Oslo, auf Anweisung der Polizeipräsidentin einen seiner besten Männer zur Begleitung der Untersuchung nach Bangkok entsenden. Wie Møller durch den Staatssekretär Askildsen und Verwaltungschef Torhus vom Auswärtigen Amt erfährt, hatte Molne nicht die nötigen Qualifikationen für den Job, dafür aber die wohlwollende Unterstützung des Ministerpräsidenten, der natürlich wenig erbaut wäre, sollte öffentlich werden, dass der verheiratete Molne in einem Bordell zu Tode gekommen ist. 
Auf der Suche nach einem geeigneten Beamten, der bereits viel Erfahrung mit internationaler Polizeiarbeit hat und auf gewisse Erfolge zurückblicken kann, kommt Møller auf Vorschlag der Polizeipräsidentin schließlich auf den 35-jährigen Kommissar Harry Hole, der vor einem Jahr in Australien wertvolle Dienste geleistet hatte. Hole ist wenig begeistert von diesem Auftrag. Seit der Vergewaltigung seiner Schwester Søs hängt Hole an der Flasche, doch das reicht offenbar nicht, um den Job zu verweigern. In Bangkok arbeitet Hole mit der glatzköpfigen Amerikanerin Liz Crumley, Hauptkommissarin beim Morddezernat, zusammen. 
Bei der Besichtigung des Tatorts und des vor dem Motel parkenden Autos des Botschafters entdecken sie Wettscheine, Ampullen für flüssiges Ecstasy und einen verschlossenen Koffer, in dem die Beamten später Fotos finden, die den Botschafter als Pädophilen entlarvten. Bei den weiteren Ermittlungen stößt Hole auf den Banker Jens Brakke und den schwerreichen Bauunternehmer Ove Klipra, der Molnes Geldsorgen gelindert haben könnte. Brakke, der eine Affäre mit der schwerkranken Frau des Botschafters unterhält, kommt in Untersuchungshaft, doch ist Hole alles andere als von dessen Schuld überzeugt. Für die norwegischen Behörden ist der Fall abgeschlossen, Hole soll wieder zurück in die Heimat beordert werden. Doch Hole will die Sache zu einem befriedigenden Ende bringen und begibt sich bei seinen weiteren Nachforschungen in Lebensgefahr … 
„Waren ihm all die Zeitungsartikel und das Schulterklopfen, das er nach seiner Rückkehr aus Australien eingeheimst hatte, wirklich so egal, wie er geglaubt hatte? War die Idee, alles und jeden zu missachten, um sich möglichst bald wieder der Søs-Sache zu widmen, bloß ein Vorwand? Weil es ihm so verflucht wichtig geworden war, Erfolg zu haben?“ (S. 196) 
Nachdem der Norweger Jo Nesbø mit „Der Fledermausmann“ ein beachtliches Debüt und den Startschuss für die bis heute erfolgreiche Reihe um Polizeikommissar Harry Hole abgeliefert hatte, lässt er seinen charismatischen Protagonisten in „Kakerlaken“ diesmal im Land des Lächelns ermitteln. Während seine Vorgesetzten davon ausgehen, dass Hole wenig Wirbel um die Ermordung des norwegischen Botschafters machen und den Fall schnell abhaken würde, erweist sich der norwegische Kommissar doch als hartnäckiger und gewissenhafter, als es die politische Führung in seiner Heimat erwartet hat. Hole gerät in ein immer komplexeres Geflecht aus Korruption, Gier, sexuellen Perversitäten und geschickt inszenierten Intrigen. 
Nesbø bleibt dabei eher an den Ermittlungen des ermordeten Botschafters als an der Persönlichkeit seiner Hauptfigur. Da erfahren wir nur von den Alkoholproblemen, der Vergewaltigung seiner Schwester, für die Hole noch niemanden zur Rechenschaft ziehen konnte, und seinem Ehrgeiz, den Fall in Bangkok um jeden Preis zu lösen. Vor allem im Finale erweist sich Nesbø als raffinierter Krimi-Autor. Wie er seinen Harry Hole die einzelnen Fäden entwirren und den komplexen Fall letztlich lösen lässt, ist einfach packend geschrieben und macht neugierig auf die nachfolgenden Harry-Hole-Abenteuer, in denen es dann hoffentlich auch wieder persönlicher wird.


John Irving – „Die wilde Geschichte vom Wassertrinker“

Sonntag, 24. Januar 2021

(Diogenes, 487 S., Tb.) 
Fred „Bogus“ Trumper leidet unter unspezifischen Problemen beim Wasserlassen. Nachdem ihm sein Vater, der Urologe ist, nicht weiterhelfen konnte, wendet sich Trumper in New York an den Franzosen Dr. Jean-Claude Vigneron, der seinem Patienten letztlich zwei Optionen anbietet, die seinem Leiden mit dem ungewöhnlich schmalen Urogenitaltrakt Abhilfe verschaffen könnten: eine Operation oder die Wassermethode, die vor allem darin besteht, vor und nach dem Geschlechtsverkehr viel Wasser zu trinken. Da Trumper sich nicht auf eine 48-stündige Schmerzphase nach einer Operation einlassen will, entscheidet er sich für die Wassermethode. 
Neben diesem gesundheitlichen Problem muss sich Trumper aber mit ganz existentiellen Nöten herumschlagen, nämlich seiner Doktorarbeit. Der Student der Sprachen an der University of Iowa plant, mit seiner Dissertation eine Übersetzung des Epos „Akthelt und Gunnel“ aus dem Altniedernordischen vorzulegen. Für einen Studienaufenthalt zieht es Trumper nach Österreich, wo er in Kaprun die erfolgreiche Skiläuferin Sue „Biggie“ Kunft kennenlernt. 
Als Biggie von Trumper schwanger wird und mit ihm nach Amerika zurückkehrt, streicht ihm sein Vater seine monetären Zuwendungen, so dass Trumper gezwungen ist, Aushilfsjobs wie das Verkaufen von Wimpeln in Sportstadien auszuüben. Die Beziehung zu Biggie geht in die Brüche, Trumper zieht es wieder nach Österreich, wo er seinen alten Freund Merrill Overturf besuchen will. Zwar findet er seinen Freund nicht, wird dafür aber in eine Drogengeschichte verwickelt. 
Die Rückkehr nach New York gelingt auf abenteuerliche Weise. Mit dem Drogengeld, das Trumper unerklärlicherweise zugesteckt bekommen hat, leistet er sich eine Taxifahrt nach Maine, wo Trumper seinen alten Freund Couth besuchen will. Dabei stellt er fest, dass Biggie und ihr gemeinsamer Sohn Colm bei Couth leben. Enttäuscht kehrt Trumper nach New York zurück. Ralph Tucker, für den Trumper schon früher als Tontechniker gearbeitet hat, will einen Dokumentarfilm über Trumper drehen und ihn „Der Griff in die Scheiße“ nennen. Bei den Dreharbeiten gerät auch Trumpers Beziehung zu seiner Freundin Tulpen ins Trudeln … 
„Er hatte Lust, nach Maine zu gehen, sich das neue Baby anzusehen und seine Zeit mit Colm zu verbringen. Er wusste, dort war er eine Zeitlang ein gerngesehener Gast, wenn er auch nicht bleiben konnte. Er hatte auch Lust, nach New York zu gehen und Tulpen zu besuchen, aber er wusste nicht, wie er ihr entgegentreten sollte. Er stellte sich eine Art Rückkehr vor, die ihm gut gefallen würde: triumphierend, wie ein geheilter Krebskranker. Aber er war sich nicht klar, welche Krankheit er bei seinem Weggang gehabt hatte, und so konnte er auch schwerlich wissen, ob er nun geheilt war.“ (S. 456) 
Mit seinem zweiten, 1972 veröffentlichten Roman, erzählt John Irving („Das Hotel New Hampshire“, „Owen Meany“) die Geschichte eines Mannes, der nie wirklich etwas zu Ende gebracht hatte, der als Ringer schon kurz vor dem Triumph stand und dann doch noch seinen Kampf verlor; der vor den Frauen flüchtet, sobald sie ihm nur die leiseste Ahnung vermitteln, dass sie fremdgehen könnten; der sich letztlich ein Dissertationsthema aussucht, das ebenso uninteressant wie schwierig zu bewältigen ist. Als Leser fällt es einem schwer, Sympathien für diesen wankelmütigen Hallodri namens Fred „Bogus“ Trumper zu entwickeln. Bereits seine Einführung mit dem Problem seines verengten Urogenitaltrakt taugt nicht dazu, eine persönliche Bindung zu dem Protagonisten aufzubauen, der mal als Ich-Erzähler auftritt, dann als zu beobachtendes Objekt in der dritten Person oder auch als Rolle in einem Drehbuch. So munter wie Irving zwischen den Erzählperspektiven hin- und herspringt, so wechselt er auch die Zeitebenen, was es schwierig macht, der Geschichte zu folgen. Dazu lässt der US-Amerikaner immer wieder ausgiebige Zusammenfassungen der (fiktiven) altniedernordischen Saga in den Plot einfließen, die das Lesevergnügen weiter schmälern, was umso schmerzlicher ist, als dass Irving ein wirklich einfallsreicher, sprachlich versierter und witziger Autor mit einem Gespür für seine ungewöhnlichen Figuren ist.


James Patterson – (Women’s Murder Club: 9) „Das 9. Urteil“

Dienstag, 19. Januar 2021

(Limes, 350 S, HC) 
Um sich mit ihrer heimlichen Geliebten Heidi ein neues Leben aufbauen zu können, ist die Highschool-Lehrerin Sarah Wells unter die Juwelendiebe gegangen. Sie bricht dabei so erfolgreich in die Häuser bestens situierter Menschen ein, während diese im Erdgeschoss Partys veranstalten oder ihr Abendessen einnehmen, dass sie bereits von der Presse den Spitznamen „Hello Kitty“ verpasst bekommen hat. Als sie allerdings in das Haus der bekannten Hollywood-Schauspielers Marcus Dowling und seiner Frau Casey eindringt, kommt das Ehepaar allerdings früher ins Schlafzimmer zurück als erwartet, und Sarah muss sich im Kleiderschrank verstecken, wo sie zunächst einen Streit, dann den Versöhnungssex hörte, um dann endlich aus dem Fenster zu klettern, nachdem sie die regelmäßigen Atemgeräusche der Schlafenden wahrgenommen hatte. 
Obwohl sie dabei ein Wandtischchen umwirft und Casey dadurch aufweckt, gelingt Sarah die Flucht. Doch dann erfährt sie aus den Nachrichten, dass Casey erschossen wurde und sie selbst als Tatverdächtige gilt. Detective Lindsay Boxer und ihr Partner Rich Conklin übernehmen die Ermittlungen in diesem Raubmord übernehmen, haben es aber vor allem mit einer viel brutaleren Mordserie zu tun. Ein Mann, der in Parkhäusern belebter Shopping Malls junge Mütter und ihre Kinder tötet, hinterlässt jeweils das mit dem Lippenstift seiner Opfer geschriebene Kürzel FKZ in verschiedenen Kombinationen an den Tatorten. So bekommt Lindsay kaum Zeit, um die glückliche Beziehung mit Joe zu genießen, aber auch ihre Freundinnen, die Staatsanwältin Yuki Castellano, die Reporterin Cindy Thomas und die Pathologin Claire Washburn, bekommt sie kaum zu sehen. Schließlich wendet sich der Lippenstift-Mörder direkt an die Öffentlichkeit, verlangt zwei Millionen Dollar und bringt Lindsay als Überbringerin des Geldes in eine gefährliche Situation … 
„Ich gebe es zu. Für einen irrationalen Augenblick lang zuckte die Wut in mir auf. Das eigene Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, woran man glaubt, das ist eine Sache. Aber von einem Killer als Roboter benutzt zu werden, als Opfer bei einer Aktion, die man selbst für falsch, ja, für Wahnsinn hält … das ist etwas ganz anderes.“ (S. 201) 
Die Thriller-Serien, die James Patterson um den Polizeipsychologen Alex Cross und um den Club der Ermittlerinnen entwickelt hat, sind regelmäßig auf den vorderen Plätzen der internationalen Bestseller-Listen zu finden. Das bedeutet allerdings nicht, dass Patterson mit seinen Co-Autoren stets hochklassigen Lesestoff abliefert. „Das 9. Urteil“ – das Patterson wie seit dem 4. Band der Reihe um den Women’s Murder Club mit Maxine Paetro verfasst hat – baut vor allem auf rasante Action, die in meist zwei- bis dreiseitigen Kapiteln in großer Schrift abgehandelt wird. 
Dass bei zwei Fällen, die natürlich wieder miteinander zusammenhängen und jeweils Seriencharakter besitzen, auf 350 Seiten kaum Raum für die Schilderung detaillierter Ermittlungsarbeit noch feine Figurenzeichnung bleibt, dürfte jedem Leser bewusst sein. Ärgerlich wird es nur, wenn beide hier präsentierten Fallserien so unglaubwürdig in Motivation und Ausführung wirken. Eine verheiratete Highschool-Lehrerin wird auf einmal zu einer raffinierten Juwelendiebin, die in an sich hochgesicherte Privatanwesen eindringt und stets unentdeckt entkommt? Ein Kriegsveteran ist so traumatisiert, dass er Frauen und ihre Kinder umbringt? Allein diese Prämissen machen „Das 9. Urteil“ zu einem äußerst faden Ritt durch einen allein auf Action getrimmten Plot, dessen durchweg fehlende Glaubwürdigkeit durch immer neue abstruse Entwicklungen und Zusammenhänge getoppt wird. 
Kein Wunder, dass „Das 9. Urteil“ das vorletzte Buch der Reihe ist, das hierzulande in der Erstausgabe als Hardcover erschienen ist, ab Fall 11 nur noch als Paperback. 

Dan Simmons – „Das leere Gesicht“

Samstag, 16. Januar 2021

(Heyne, 350 S., Tb.) 
Der Mathematiker Jeremy Bremen verfügt über die seltene Gabe der Telepathie, die er glücklicherweise mit seiner Frau Gail teilt. Die intensive Art, wie sie einander Gedanken und Gefühle teilen, verbindet sie auf fast symbiotische Weise. Allein Gail ist auch in der Lage, mit den von ihr aufgebauten Gedankenschirmen für ihren Mann eine Art Schutzwall vor den unzähligen Gedankenströmen fremder Personen zu errichten, so dass er sich besser auf seine Arbeit konzentrieren kann. Als sie jedoch nach schwerer Krankheit stirbt und Bremen den Schutz durch seine Frau gegen das sogenannte Neurobrabbeln verliert, versinkt Bremen in eine tiefe Depression. 
Er lässt sich von der mathematischen Fakultät in Haverford freistellen, zündet das gemeinsame Haus an und begibt sich auf eine abenteuerliche Odyssee, bei der vor allem mit den fürchterlichen Gedanken und Begierden von Gewalt, Misstrauen, Hass, Neid und Gier in den Gedankenströmen der Menschen konfrontiert wird. Als Bremen in Miami in einer Fischerhütte strandet, beobachtet er, wie der Mafioso Vanni Fucci eine Leiche im Fluss entsorgt. Fucci bringt Bremen in seine Gewalt und will ihn als Zeugen von seinen Kollegen töten lassen, doch gelingt es dem Chaosforscher, in Disney World seinem Peiniger zu entkommen und mit dem Bus weiter nach Denver zu reisen. Dort wird er aber nach seiner Ankunft beraubt und krankenhausreif geschlagen. 
Mit Hilfe eines freundlichen Obdachlosen namens Soul Dad flieht er in einem geklauten 79er Pontiac, nachdem er den Vergewaltiger eines Mädchens fast zu Tode geprügelt hatte. Bremen landet schließlich auf der Farm von Miz Morgan, die ihn als Farmarbeiter anheuert, aber letztlich nur daran interessiert ist, Bremen mit ihrem Metallgebiss zu töten und in das Kühlhaus zu den anderen Leichen zu hängen. Erst als er nach Las Vegas flüchten kann und Dank seiner telepathischen Kräfte beim Pokern satte Gewinne einstreicht, scheint sich das Blatt für Bremen zu wenden. Doch in einem der Casinos erkennt Vanni Fucci den Zeugen aus Miami wieder und unternimmt einen zweiten Anlauf, Bremen unter die Erde zu bringen. Wieder einmal wird Bremen den schrecklich primitiven Gedanken menschlicher Wesen ausgesetzt … 
„Die meisten brutalen Menschen, die Bremen mit seinem Geist berührte, waren dumm – viele erstaunlich dumm, viele unterstützten ihre Dummheit durch Drogen -, aber der Dunstkreis ihrer Gedanken und Gedächtniszentren war nichts im Vergleich mit der blutwitternden Klarheit des Jetzt, der Unmittelbarkeit dieser Sekunden der Gewalt, die sie suchten und genossen, die das Herz schneller schlagen ließen und Erektionen bescherten. Die Erinnerungen an solche Taten waren weniger in den Köpfen als vielmehr in den Händen und Muskeln und Lenden gespeichert. Gewalt bestätigte. Sie schuf einen Ausgleich für die vielen banalen Stunden des Wartens, der Beleidigung und Untätigkeit, die Stunden vor dem Fernseher, wohl wissend, dass man keines der strahlenden Wunder besitzen konnte, die dort vorgeführt wurden …“ (S. 136f.) 
Nachdem sich Dan Simmons mit „Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“ und „Kinder der Nacht“ als preisgekrönter Horror-Autor etabliert hatte, der mit dem zweibändigen Epos um „Hyperion“ auch die Science-Fiction erfolgreich erobern konnte, legte er 1992 mit dem Roman „The Hollow Man“, der zwei Jahre darauf bei Heyne in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Das leere Gesicht“ veröffentlicht wurde, ein weitaus schwerer zugängliches Werk vor. Das betrifft nicht nur den ungewöhnlichen Aufbau des Romans, der mit dem Sterben von Bremens Frau Gail beginnt und von der Schilderung von Erinnerungen sowie ungewöhnlichen Erzählperspektiven geprägt wird, sondern auch den sehr ausführlich dargelegten wissenschaftlichen Hintergrund, der Bremens Forschung betrifft. Eine besondere Rolle nimmt dabei die schicksalhafte Begegnung mit dem Neuroforscher Jacob Goldmann ein, dessen Arbeit sich wunderbar mit Bremens eigener Forschung zum menschlichen Gedächtnis als sich fortpflanzende Wellenfront ergänzt. 
Simmons lässt Bremen und Goldmann endlos lange über die Probleme der Quantenmechanik, Parallelwelten, Kartographie des menschlichen Bewusstseins und Wahrscheinlichkeitswellen diskutieren, was den Fluss der Handlung nicht nur ausbremst, sondern in seiner Detailverliebtheit auch nicht unbedingt zum Verständnis der Geschichte nötig ist. So präsentiert sich „Das leere Gesicht“ als extrem heterogenes, höchst komplexes Werk, das sich als Road Trip mit Elementen aus Horror, Fantasy und Science-Fiction erweist, sich aber auch mit grundlegenden spirituellen und philosophischen Fragen beschäftigt. 
Zum Ende hin gewinnt die Handlung an Tempo und Spannung, schließt auch einzelne Handlungsfäden und Überlegungen zusammen, doch erreicht „Das leere Gesicht“ letztlich nicht die bestechende Qualität früherer Simmons-Werke.


Michael Connelly – (Harry Bosch: 9) „Letzte Warnung“

Montag, 11. Januar 2021

(Heyne, 416 S., Tb.) 
Seit Harry Bosch seinen Job beim Los Angeles Police Department hingeschmissen hatte, hat er sich wie die meisten anderen ehemaliger Polizei-Kollegen routinemäßig eine Lizenz als Privatdetektiv zugelegt und ermittelt nun auf eigene Faust, aber ohne offiziellen Status. Dabei widmet er sich einem Fall, der ihn schon vor vier Jahren beschäftigt hat, aber nie abgeschlossen wurde. Damals wurde die 24-jährige Hollywood-Produktionsassistentin Angella Benton vor ihrem Apartmenthaus tot aufgefunden. Sie arbeitete für Alexander Taylors Firma Eidolon Productions, die zu jener Zeit einen Film produzierte, der wegen eines bewaffneten Überfalls ebenfalls für Schlagzeilen sorgte: Da der Regisseur des Films darauf bestand, mit echtem Geld beim Dreh zu arbeiten, ließ er sich von BankLA zwei Millionen Dollar bringen, doch bei der Übergabe erbeuteten Gangster das teilweise registrierte Geld. 
Bosch war zu der Zeit wegen der Ermittlung im Fall der erwürgten Angella Benton am Tatort und konnte einen der Täter niederstrecken, das Geld blieb allerdings verschwunden – bis einer der registrierten Scheine bei einem mutmaßlichen Terrorverdächtigen sichergestellt wurde. Das rief die noch junge ,Rapid Response Enforcement and Counter Terrorism‘-Einheit auf den Plan, so dass der Polizei der Fall entzogen wurde. 
Dabei mussten schon Bosch und seine beiden Kollegen von der Hollywood Division, Kiz Rider und Jerry Edgar, zuvor den Fall bereits an die Robbery-Homicide-Division abgeben. Kaum hatten Jack Dorsey und Lawton Cross den Fall übernommen, wurden sie bei einem Raubüberfall in einer Bar ins Visier genommen. Dorsey erlag noch am Tatort seinen Verletzungen, Cross ist seitdem querschnittsgelähmt an den Rollstuhl gefesselt und wird von seiner Frau gepflegt. Harry Bosch lässt vor allem das Bild der getöteten Produktionsassistentin mit ihrem entblößten Körper, dem absichtlich platzierten Sperma und der wie flehend wirkenden Geste ihrer Hände nicht los. 
Eine weitere Spur seiner Ermittlungen führt zu der nach wie vor vermissten FBI-Agentin Martha Gessler, die ein Computer-Programm entwickelt hatte, um registrierte Geldscheine zu dokumentieren, bis sie in einem anderen Zusammenhang wieder auftauchten. Bosch muss sich zunächst auf die langsam zurückkehrenden Erinnerungen des damals ermittelnden Beamten Lawton Cross verlassen, da sowohl die Polizei als auch das FBI Bosch drängen, die Finger von der Sache zu lassen. Aber Bosch wäre nicht Bosch, wenn er sich durch solche Drohungen einschüchtern lassen würde. Schließlich kommt er auf einen Verdächtigen, den bislang niemand so recht auf dem Zettel hatte … 
„Ich hatte das Gefühl, dass Bewegung in die Sache kam, und das machte mich ganz kribbelig, denn instinktiv wusste ich, dass ich der Lösung des Rätsels ganz dicht auf der Spur war. Ich hatte zwar nicht alle Antworten, aber aus Erfahrung wusste ich, sie würden sich irgendwann von selbst ergeben. Was ich allerdings hatte, war die Richtung. Es war mehr als vier Jahre her, dass ich auf Angella Bentons Leiche hinabgeblickt hatte, und endlich hatte ich einen richtigen Verdächtigen.“ (S. 329) 
In seinem neuen Dasein als Privatdetektiv merkt Hieronymus „Harry“ Bosch sehr schnell, wie schwierig sich die Ermittlungen gestalten, wenn man bei Befragungen von Zeugen und Beamten anderer Dienststellen nicht mit seinem Abzeichen und Dienstausweis die entsprechende Befugnis bezeugen kann. Doch in seiner langjährigen Karriere als Detective beim LAPD hat Bosch eine Hartnäckigkeit entwickelt, die ihm auch bei dem noch unaufgeklärten Mord an einer jungen Filmproduktionsassistentin dienlich ist. 
Zwar legt sich Bosch nicht nur mit seinen ehemaligen Kollegen beim LAPD, sondern vor allem mit dem FBI an, doch kommt er nach und nach verschiedenen Umständen auf die Spur, die den Mord an Angella Benton mit den Raubüberfällen am Set und in der Bar sowie dem Verschwinden der FBI-Agentin Marty Gessler in Verbindung bringen. Dabei gerät Bosch sogar ins Visier der Täter und kann am Ende von Glück sagen, dass er lebend aus seinem Haus in Hollywood gekommen ist. 
Aber auch seine geschiedene Frau Eleonor, die mit offensichtlich großem Erfolg in Las Vegas professionell pokert, lässt Bosch nicht los. Michael Connellys neunter Band um Harry Bosch zählt zu den besten der langlebigen Thriller-Reihe, die ebenso erfolgreich als Serie von Amazon produziert worden ist. 
„Letzte Warnung“ enthält nämlich alles, was einen guten Cop-Thriller ausmacht, vor allem einen faszinierenden Fall, der immer weitere Komponenten und Querverweise auf andere Fälle aufweist, so dass sich ein komplexes Gerüst an Verwicklungen ergibt, die Bosch mit ebenso viel Geduld wie Hartnäckigkeit zu entwirren versteht. Dabei bringt Connelly gut zum Ausdruck, was die nach 9/11 auf den Weg gebrachten Antiterrormaßnahmen nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch für andere Strafverfolgungsmaßnahmen für Folgen hat. Neben dem absolut packenden Plot mit vielschichtigen Wendungen bringt Connelly auch Boschs Privatleben gut zum Ausdruck, was sich zum einen in dessen Vorliebe für guten Jazz und seine nach wie vor tiefen Gefühle für seine Ex-Frau widerspiegelt.