Jon Savage – „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere – Die Geschichte von Joy Division“

Sonntag, 26. April 2020

(Heyne Hardcore, 384 S., HC)
Die 1976 von Peter Hook, Bernard Sumner und Terry Mason gegründete und dann von Sänger Ian Curtis vervollständigte Band Joy Division nahm bis zu Ian Curtis‘ tragischen Selbstmord am 18. Mai 1980 zwar nur zwei Alben auf, doch avancierte sie nicht zuletzt durch die energiegeladenen Konzerte zum Aushängeschild eines Genres, das die Attitüde und Wildheit des Punk Rock zu den melodischeren Gefilden des Dark Wave und Gothic Rock überführte. Bekanntermaßen führten Bernard Sumner, der Ian Curtis als Sänger ersetzte, Bassist Peter Hook, Drummer Stephen Morris und Keyboarder Gillian Gilbert als New Order erfolgreich das Erbe von Joy Division fort, doch war die Geschichte von Joy Division seither immer wieder Thema für ausführliche Artikel, ganze Bücher und sogar Filme.
So sind nicht nur die Songtexte und Notizen von Ian Curtis („So This Is Permanence. Joy Division Lyrics and Notebooks“) und Erinnerungen seiner Frau Deborah Curtis („Touching From a Distance – Ian Curtis & Joy Division“), sondern auch verschiedene Bücher der Band-Mitglieder und -Involvierten Peter Hook („Unknown Pleasures: Inside Joy Division“), Paul Morley (Joy Division: Piece by Piece“) und Bernard Sumner („Chapter and Verse: New Order, Joy Division and Me“) veröffentlicht worden. Der bekannte britische Publizist Jon Savage, der bereits Bücher über The Kinks, die Sex Pistols und den Punk Rock geschrieben hat und zuletzt „Teenage: The Creation of Youth Culture“ (2007) veröffentlichte, wählte für sein neues Buch über Joy Division einen besonders interessanten Ansatz und lässt in „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ vor allem Zeitzeugen die Geschichte von Joy Division in chronologisch strukturierten Zitaten erzählen.
Als Grundlage dienten dem Autor vor allem die Interviews, die Grant Gee und er selbst für den 2016 entstandenen Dokumentarfilm „Joy Division“ führten, ergänzt durch Gespräche, die u.a. für einen Artikel im „Mojo“ (1994) und zu Savages Buch „England’s Dreaming“ aufgenommen wurden. Dabei beschreiben die Protagonisten und Zeitzeugen zunächst das besondere Lebensgefühl im Manchester Mitte der 1970er Jahre, wo der soziale Wohnungsbau seinen Anfang nahm, wo dank der Hafenanlagen unterschiedlichste Einflüsse und Stile die Stadt überschwemmten und die Manchester Free Trade Hall zu einem Epizentrum der psychogeografischen Energie wurde, in dem Gewerkschaftsveranstaltungen ebenso abgehalten wurden wie Konzerte von Louis Armstrong, Bob Dylan und die Sex Pistols stattfanden. Das Spannungsverhältnis zwischen Arm und Reich prägte die zunehmend von Zerfall geprägte Industrielandschaft, die Sehnsucht nach dem Schönen hinter all der Hässlichkeit. Diese postindustrielle Atmosphäre voller leerstehender Lagerhallen- und Fabrikruinen, in denen sich neue Slums bildeten, war der ideale Nährboden für eine bunt schillernde Club-Szene in den 1960er Jahren, als sich Terry Mason, Bernard Sumner und Peter Hook kennenlernten und sich alles Mögliche an Konzerten ansahen, AC/DC, Dr. Feelgood, Iggy Pop, David Bowie und schließlich die Sex Pistols.
In den nachfolgend aneinandergereihten sehr persönlicher Erinnerungen wird anschaulich geschildert, wie Joy Division ihre ersten Songs einspielten, Martin Hannett als Produzenten gewannen und schließlich mit Tony Wilson zusammentrafen, der eine eigene Musiksendung bei Granada TV hatte und schließlich mit Pete Saville das legendäre Factory Label gründete, auf dem Joy Division zunächst die beiden Songs „Digital“ und „Glass“ auf der Doppel-EP „A Factory Sample“ veröffentlichten, dann die beiden Alben „Unknown Pleasures“ (1979) und „Closer“ (1980).
Je mehr Live-Auftritte Joy Division allerdings absolvierten, je mehr Ian Curtis hin- und hergerissen war zwischen seiner Frau Deborah, mit der er ein gemeinsames Kind hatte, und der gut situierten und gebildeten Belgierin Annik Honoré, desto stärker machten sich seine epileptischen Anfälle und die durch die starken Medikamente verursachten Stimmungsschwankungen bemerkbar. Bei all diesen Schilderungen wird deutlich, wie unsicher und unreif die damals noch Anfang Zwanzigjährigen mit der Situation umgegangen sind, wie sehr sie sich auf Ians Beteuerungen verließen, dass alles gut sei. Jon Savage gelingt es, in der abwechslungsreichen wie intimen Zusammenstellung der Eindrücke und Erinnerungen ein sehr authentisch wirkendes Portrait der Zeit und der besonderen Umstände zu zeichnen, in der Joy Division gewirkt haben. Die „No City Fun“-Autorin Liz Naylor fasst schließlich zusammen:
Joy Division kamen aus einer bestimmten Zeit und von einem bestimmten Ort, und sobald man sie dort herausnimmt, verändert sich ihre Bedeutung. Als hätten sie kollektiv die damalige Aura von Manchester transportiert. Sie waren so, wie Manchester war. Folglich wurde diese Aura auch Ian als Einzelperson zugeschrieben, aber ich denke, das ist ein Missverständnis. Als Band waren sie sehr viel wichtiger denn als Individuen oder als seine Vision, weil ich nämlich nicht glaube, dass es seine Vision war. Ich glaube, es war die Atmosphäre von Manchester.“ (S. 202) 
Angereichert mit einigen schönen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Plakaten, Logos und Fotos bietet „Sengendes Licht, die Sonne und alles andere“ einen faszinierenden Einblick in das Entstehen und Wirken einer ungewöhnlichen wie einflussreichen Band, die aus dem Geist des Post-Punk in intellektueller Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung darstellte und musikalisch gerade von deutschen Acts wie Kraftwerk, Neu! und Can zu ihrem einzigartigen Sound inspiriert wurde. Die Vielfalt der eingefangenen Stimmen machen das Portrait von Joy Division ebenso persönlich wie vielschichtig.
Leseprobe Jon Savage - "Sengendes Licht, die Sonne und alles andere"

Michael Connelly – (Harry Bosch: 8) „Kein Engel so rein“

Mittwoch, 15. April 2020

(Heyne, 416 S., HC)
Harry Bosch hat in der Neujahrschicht beim Morddezernat der Polizei von Los Angeles bereits zwei Selbstmorde aufnehmen müssen, bekommt er einen Anruf von Mankiewicz, dem diensthabenden Sergeanten in der Hollywood Division des LAPD. Offenbar hat der Hund eines pensionierten Arztes in Laurel Canyon, Dr. Paul Guyot, den Oberarmknochen eines Kindes ausgebuddelt. Bei weiteren Ausgrabungen an der Fundstelle auf dem dicht bewaldeten Hang werden nicht nur weitere Knochen, sondern auch ein Rucksack und einige Kleiderstücke gefunden. Die Obduktion ergibt nicht nur, dass der Todeszeitpunkt des Jungen grob geschätzt Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre angesiedelt werden muss, sondern dass der Junge Opfer massiver Misshandlungen gewesen war, wie die unzähligen Frakturen auch am Schädel beweisen.
Die erste Spur führt zu dem Filmrequisiteur Nicholas Trent, der 1966 bereits wegen der sexuellen Belästigung eines kleinen Jungen verurteilt worden ist. Durch eine undichte Stelle beim LAPD sickert dessen Identität jedoch zu den Medien durch, worauf sich der Verdächtige erhängt. Während Boschs Vorgesetzte Lieutenant Billets und Deputy Chief Irvin Irving darauf drängen, den Fall schnell zu den Akten zu legen, sagt Boschs Bauchgefühl, dass die Sache längst nicht abgeschlossen ist. Als sich Sheila Delacroix bei der Polizei meldet und das Opfer schließlich anhand ihrer Aussage mit den gefundenen Beweisen als ihr Bruder Arthur identifizieren lässt, gerät Sam Delacroix, der Vater des Jungen, ins Visier der Ermittlungen. Bosch ist von dem Fall, der ihn immer wieder an seine eigene Kindheit als Pflegekind erinnert, und seinen Begleiterscheinungen so frustriert, dass er an der Sinnhaftigkeit seines Jobs zu zweifeln beginnt …
„Er hatte immer gewusst, dass er ohne seinen Job und seine Dienstmarke und seine Aufgabe verloren wäre. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er mit all dem genauso verloren sein konnte. Er konnte sogar wegen all dem verloren sein. Genau das, was er am meisten zu brauchen glaubte, war das, was ihn mit dem Leichentuch der Sinnlosigkeit umhüllte.“ (S. 414) 
Es ist ein erschütternder Fall, den Hieronymus „Harry“ Bosch in seinem achten Fall auf den Tisch bekommt. Dabei hat er nicht nur mit dem Umstand zu kämpfen, dass der Junge bereits vor gut einem Vierteljahrhundert ermordet wurde und die Beweislage mit dem Auffinden möglicher Zeugen sehr dünn ist, sondern auch mit einem Leck bei der Polizei, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Ermittlungsergebnisse an die Medien weiterleitet, und den strukturellen Problemen in seiner Einheit, wo auch andere, aktuelle Morde auf ihre Bearbeitung warten.
Im Gegensatz zu früheren Auseinandersetzungen mit Kollegen und Vorgesetzten stößt Bosch diesmal aber niemandem wirklich heftig vor den Kopf. Zwar haben sowohl seine Vorgesetzten Billets und Irving bestimmte Vorstellungen über die Art der Ermittlungen und den Umgang mit den Medien, und auch von seinem Partner Jerry Edgar muss sich Bosch immer wieder die Rüge gefallen lassen, dass er nicht in seine Vorgehensweise eingeweiht wird, doch bis auf wenige Stolperfallen kann Bosch diesmal recht frei seinen Weg verfolgen.
Kritisch beäugt wird eher sein Verhältnis zu der ehemaligen Anwältin und Weltreisenden Julia Brasher, die als Streifenpolizistin gerade erst angefangen hat und somit im Dienstgrad unter Bosch steht. Besonders überzeugend ist die Ausgestaltung der Affäre zwischen Bosch und Brasher allerdings nicht gelungen, vor allem das merkwürdige Ende ihrer Beziehung wirkt nicht gelungen. Auch sonst hält sich Connelly nicht lange genug mit seinen Figuren auf, um ihnen ein charismatisches Profil zu verleihen. Das Thema Päderastie und die Bestrafung der Täter, der Umgang der Medien mit heiklen Informationen und auch das oft bedauernswerte Schicksal vieler Pflegekinder werden nur kurz angerissen, aber nie tiefergehend abgehandelt.
So stellt „Kein Engel so rein“ einen unterhaltsamen Krimi mit stringent konstruierten Plot dar, der aber kaum eine nachhaltige Wirkung hinterlässt.
Leseprobe Michael Connelly - "Kein Engel so rein"

Don Winslow – „Broken“

Sonntag, 12. April 2020

(HarperCollins, 512 S., HC)
Während der Nachtschicht in der Polizeinotrufzentrale von New Orleans bekommt Eva McNabb mehr als genug von den Schicksalen gebrochener Menschen mit, die von Raubüberfällen, Schießereien, Ehestreitigkeiten und Prügeleien betroffen sind. Ihr Mann Big John bekam davon als Cop ebenso viel mit wie nun ihre beiden Söhne Jimmy und Danny. Als Ermittler beim Drogendezernat der Sonderermittlunsgeinheit will er im Hafen ein Frachtschiff hochnehmen, das eine riesige Lieferung Meth für Oscar Diaz in die Stadt bringen soll, ohne die Kollegen von der Hafenpolize, der DEA oder ein SWAT-Team hinzuzuziehen. Zwar gerät er mit seinen Kollegen Angelo, Wilmer und Harold unter Beschuss, doch Jimmys Jungs bekommen die Sache in den Griff, schmeißen einen von Diaz‘ Männern ins Wasser, mit schönen Grüßen an seinen Boss von Jimmy McNabb. Diaz ist natürlich stinksauer, schließlich war dieser Deal für ihn die Gelegenheit, in der Topliga mitzuspielen und seine Fracht bis hinauf nach St. Louis und Chicago zu bringen. Natürlich nimmt Diaz die Sache sehr persönlich, lässt Jimmys Bruder zu Tode foltern und verbreitet das dazugehörige Video. Jimmy sieht rot, macht sich mit seinen Männern auf die Suche nach den vier Handlangern, die an Dannys Ermordung beteiligt waren, und schließlich nach Diaz selbst, der sich in seinem Penthouse in Algiers Point versteckt. Hier kommt es zum tödlichen Showdown, wobei das Police Department längst über das Vorgehen informiert ist und sich entscheiden muss, wie es sich in dieser Sache verhalten soll …
Jimmy McNabb stellt in der Titelgeschichte von Don Winslows Band von sechs Erzählungen einen der gebrochenen Männer dar, mit denen ihre Mutter in der Notrufzentrale ständig mehr oder weniger direkt zu tun hat. „Broken“ sind auch viele der Figuren in den nachfolgenden Geschichten, die teilweise alte Bekannte aus dem mittlerweile vielschichtigen Figurenensemble präsentiert, das der US-amerikanische Bestseller-Autor vor allem mit seiner legendären Kartell-Trilogie („Tage der Toten“, „Das Kartell“, „Jahre des Jägers“), der Reihe um den jungen Privat Neal Carey, die Dawn Patrol oder dem von Oliver Stone verfilmten Abenteuer „Zeit des Zorns“ des jungen Drogendealer-Trios Ben, Cho und O(phelia) geschaffen hat.
In der Steve McQueen gewidmeten Geschichte „Crime 101“ dreht sich alles um das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem Profi-Dieb Davis, der sein Vorgehen auf den Highway 101 genannten Pacific Coast Highway beschränkt und dabei strikt den Regeln des Verbrecher-1x1 folgt, und Lieutenant Ronald „Lou“ Lubesnick. Der Cop wird von seinen Kollegen für seine Annahme belächelt, dass es bei den Raubüberfällen in den vergangenen Jahren um San Diego herum um einen Einzeltäter handelt. Interessanterweise kommt Lou dem vorsichtig agierenden Gauner erst dann auf die Spur, als er seine Frau beim Fremdgehen erwischt und sich daraufhin übergangsweise eine Wohnung mit Strandblick mietet.
Lubesnick spielt auch eine Nebenrolle in „The San Diego Zoo“, wo er die Abteilung leitet, in die der einfache Streifenpolizist Chris Shea versetzt werden möchte. Doch als ein bewaffneter Schimpanse betäubt wird und Chris bei der Aktion vom Baum fällt, wird er zum Gespött seiner Kollegen. Wenn er aber herausfindet, wie der Schimpanse überhaupt an die Waffe gekommen ist, würden seine Chancen auf eine Versetzung wieder steigen …
In „Sunset“ begegnen wir der Dawn Patrol wieder, als der Kopfgeldjäger Boone Daniels dem Kautionsagenten Duke Kasmajian die flüchtige Surf-Legende Terry Maddux ausfindig machen soll, der leider voll auf Droge gekommen ist und immer wieder in den Knast wandern musste. Nun hat Terry die Kaution verfallen lassen, ist nicht zur Verhandlung erschienen. Wenn der Duke, Boone und seine Surfer-Kollegen von der Dawn Patrol Terry nicht vor den Cops finden, kann sich Duke von dreihundert Riesen verabschieden, was er sich bei der bevorstehenden Gesetzesänderung zu Kautionsgeschäften nicht erlauben kann. Doch Terry erweist sich als sturer Bock und hat immer noch Freunde, die ihm Unterschlupf gewähren.
In „Paradise“ wollen sich Ben, Chon und O auf Hawaii nicht nur eine schöne Zeit machen, sondern ihren Handel mit Marihuana intensivieren. Dass sie mit dem ortsansässigen Tim Karsen Geschäfte machen, ist für die Firma so lange kein Problem, sobald Tim sich der Firma angeschlossen hat oder aus dem Geschäft aussteigt, aber die drei Neuankömmlinge mischen die Drogenszene auf Hawaii ordentlich auf …
In „The Last Ride“ nimmt Dale Strickland, Beamter bei der Border Patrol, alle Risiken auf sich, um ein Mädchen aus dem Auffanglager für illegale Einwanderer über die Grenze zurück zu ihrer Mutter nach Mexiko zu bringen. Es ist nicht nur schön, einige der lebendigsten Charaktere, die Don Winslow über all die Jahre geschaffen hat, in „Broken“ wiederzutreffen und etwas mehr über ihre Geschichten und Abenteuer zu erfahren.
Winslow erweist sich hier einfach auch als ein begnadeter Erzähler, der in der komprimierten Form der Kurzgeschichte packend zu unterhalten versteht. Er braucht keine lange Einleitung, um sein Publikum in die Plots einzuführen. Mit wenigen Sätzen sind Figuren, die örtlichen Gegebenheiten, die Stimmung und die Aufgabe umrissen, denen sich die Protagonisten gegenübersehen. Dabei bedient sich der Autor einer schnörkellosen Sprache, würzt seine Geschichten mit ebenso viel Humor wie blutiger Gewalt, was aber nicht darüber hinwegtäuscht, dass Winslow einfach glaubwürdige Figuren und wendungsreiche Plots zu entwickeln versteht, wobei er ein gutes Gespür dafür entwickelt, wie sich die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen auf das tägliche Leben der Menschen auswirkt, die mit den Entscheidungen der politischen Elite tagtäglich zu leben haben. Besonders nachdrücklich gelingt Winslow das in seiner letzten Geschichte „The Last Ride“, die unverblümt Donald Trumps Direktive hinterfragt, eine Mauer zwischen den USA und Mexiko zu errichten, was offensichtlich viele Einwandererfamilien zerreißt.

Andrea De Carlo – „Uto“

Freitag, 10. April 2020

(Diogenes, 438 S., HC)
Als ihr Mann Antonio bei einem durch ihn verursachten Gasunglück in seinem Büro ums Leben gekommen ist und dabei auch noch einen Priester und ein pensioniertes Lehrerehepaar mit in den Tod riss, wendet sich Lidia verzweifelt an ihre in den USA lebende deutsche Freundin Marianne, da sie sich vor allem Sorgen um ihren neunzehnjährigen Sohn Uto macht, der völlig ungerührt mit dem Tod seines Vaters umzugehen scheint. Marianne, die mit ihrem italienischen Mann Vittorio Foletti, ihrer Tochter Nina und ihrem Stiefsohn Guiseppe in der in Connecticut abgeschiedenen gelegenen Kommune Peaceville lebt, lädt Uto für ein paar Monate zu sich nach Hause ein.
Uto macht sich im Dezember tatsächlich auf den Weg, doch kommt sich der begabte Pianist mit Punkfrisur, Sonnenbrille und schwarzen Rockerklamotten schon bei seiner Ankunft wie in einem falschen Film vor. Er redet nicht viel, nimmt seine Umgebung aber sehr aufmerksam in sich auf. Vittorio betont sogleich, dass es sich bei Peaceville nicht um eine spirituelle Kolonie handelt, sondern um eine spirituelle Siedlung mit einem Zentrum, zu dem jeder gehen kann, wann er will. Ihr spiritueller Führer ist ein alter Hindu, der Swami genannt wird und sich bald nach Utos Ankunft auch zum Abendessen bei den Folettis ankündigt. Uto kann dem allseits vorgeführten Friede-Freude-Eierkuchen-Gehabe allerdings wenig abgewinnen. Stattdessen sorgt er schnell für Unruhe in der vermeintlich so harmonischen Gemeinschaft, lässt die pubertierende Nina endlich ihre Magersucht überwinden, den jungen Guiseppe-Jeff mit harter Rockmusik rebellieren und den erfolgreichen Maler Vittorio in jeder Hinsicht über die Stränge schlagen. Doch Uto selbst kommt sich immer verlorener vor …
„Ich schaute umher und suchte nach einem Punkt, an den ich mich halten konnte, der nichts mit meinen Gedanken zu tun hatte, damit sie von mir abließen und sich in irgend etwas anderes verbissen; ich war von kalter, flüssiger und so konzentrierter Verzweiflung erfüllt, wie es mir nur selten im Leben passiert war. Mir war, als würde ich mich im nächsten Moment auflösen, jede Distanz zur Außenwelt verlieren; ich hatte solche Angst, dass ich hätte schreien können, wenn das nicht schon eine zu positive Geste gewesen wäre.“ (S. 181) 
Mit seinem 1995 veröffentlichten Roman „Uto“ (alternativ auch „Guru“) nimmt der Mailander Erfolgsautor Andrea De Carlo („creamtrain“, „Zwei von zwei“, „Techniken der Verführung“) die Esoterik- und New-Age-Szene genüsslich aufs Korn, entlarvt die „Tue Gutes, und dir wird Gutes getan“-Attitüde selbsternannter Erlösungsfiguren als recht eigentlich verlogenes Getue, das den wahren Charakter eines Menschen nur zu verbergen hilft.
Uto wirkt dabei wie das jüngere Alter ego des Autors. Uto wird zunächst ausführlich als ein hochintelligenter, künstlerisch hochbegabter, analytisch beobachtender und denkender junger Mann vorgestellt, der wenige Worte verliert, sich aber sprachlich äußerst versiert auszudrücken versteht. Mit seiner unnahbaren, aber auch verletzlich wirkenden Art fasziniert er zunächst die beiden Frauen in seiner Gastgeber-Gemeinschaft, während Vittorio den jungen Mann eher eifersüchtig als Konkurrent nicht nur in seinen künstlerischen Ambitionen (obwohl er im Gegensatz zu Uto seine Landschaftsbilder für viel Geld zu verkaufen versteht), die Uto einfach so in den Schoß zu fallen scheinen, sondern auch in der Beziehung zu Frauen.
So versiert und ausschweifend De Carlo allerdings die psychischen Mechanismen in dieser spirituell geprägten Gemeinschaft seziert, so vorhersehbar entwickelt sich leider auch der wenig originelle Plot, wenn Uto nach und nach auf den Grund der einzelnen Charaktere stößt und deren gar nicht so altruistischen und (gemein)wohlwollenden Wurzeln freilegt. So liegt die Stärke in „Uto“ eher in De Carlos sprachlicher Virtuosität und der Charakterisierung seines Protagonisten. Die Folettis wirken dagegen allesamt sehr flach und klischeehaft gezeichnet, so dass das Publikum nie den Eindruck bekommt, dass hier eine Kommunikation auf Augenhöhe zwischen Uto und den einzelnen Mitgliedern der Foletti-Familie stattfindet. So wird „Uto“ allenfalls eine Leserschaft ansprechen, die ihre Einstellung gegen sektenähnliche Bewegungen auch in literarischer Hinsicht untermauern möchte.

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 3) „Die weiße Löwin“

Mittwoch, 8. April 2020

(Zsolnay, 560 S., HC)
Die Immobilienmaklerin Louise Åkerblom will am Freitagnachmittag noch das abgelegene Haus einer Witwe an der Abzweigung zwischen Krageholm und Vollsjö aufsuchen, bevor sie den Heimweg nach Ystad zu ihrem Mann und den beiden Kindern antritt, als ihr unterwegs bewusst wird, dass sie sich verfahren hat. Als sie sich auf einem anderen Hof nach dem Weg erkundigen will, wird sie mit einem Schuss in die Stirn getötet. Der vierundvierzigjährige Kriminalkommissar Kurt Wallander, der gerade gar nicht damit klarkommt, dass sein fast achtzigjähriger Vater seine gut dreißig Jahre jüngere Haushaltshilfe Gertrud heiraten will, übernimmt die Ermittlungen, als Louises Mann Robert am nachfolgenden Montag eine Vermisstenanzeige aufnimmt.
Die streng religiöse Methodistenfamilie scheint überhaupt keine Probleme gehabt zu haben, so dass Wallander und seinen Kollegen kein Motiv für die brutale Tat einfallen will. Als der Wagen der Toten in einem See und ihre Leiche zufällig auf dem Boden eines Brunnens entdeckt wird, führt der ebenfalls am Tatort gefundene Finger eines Schwarzen in eine ungewohnte Ermittlungsrichtung. Denn auf einmal explodiert ein Nachbarhaus. In den völlig zerstörten Mauern finden sich die Überreste einer russischen Funkanlage und einer ungewöhnlichen Pistole. Währenddessen laufen im April 1992 in Südafrika die Vorbereitungen eines Attentats auf den Präsidentschaftskandidaten Nelson Mandela auf Hochtouren. Der Bure Jan Kleyn, der dem südafrikanischen Geheimdienst angehört, hat mit einigen Verbündeten ein Komplott inszeniert, für das der südafrikanische Auftragskiller Victor Mabasha in Schweden durch den ehemaligen KGB-Agenten Konovalenko mit entsprechender Ausrüstung und Training versorgt werden soll.
Als Mabasha allerdings die unwürdige Behandlung durch seinen russischen Ausbilder nicht mehr erträgt und nicht verstehen kann, wie er die unschuldige Frau erschießen konnte, will er mit der Sache trotz der stattlichen Belohnung nichts mehr zu tun haben. Konovalenko schneidet dem Südafrikaner im Kampf einen Finger ab und verwischt durch einen Sprengsatz alle Spuren. Während er seinem Auftraggeber vorgaukelt, Mabasha getötet zu haben, schickt Kleyn mit Sikosi Tsiki den nächsten Auftragskiller nach Schweden. Als Südafrikas amtierender Präsident de Klerk von dem geplanten Attentat und seinen Hintermännern erfährt, setzt er seinen Verbündeten Scheepers mit der Aufklärung der Hintergründe zu dem Plan ein, doch die Zeit verrinnt …
„Scheepers sah durch die Scheibe und fragte sich, was mit seinem Leben geschehen würde, ob der große Plan, den de Klerk und Mandela formuliert hatten und der den Rückzug der Weißen bedeutete, gelingen konnte. Oder würde er zum Chaos führen, zu unkontrollierter Gewalt, zu einem schrecklichen Bürgerkrieg, in dem sich Positionen und Allianzen ständig änderten und schließlich nicht mehr kalkulierbar wären? Die Apokalypse, dachte er.“ (S. 488) 
Henning Mankell, der während der 68er Bewegung an Protesten gegen den Vietnamkrieg, Portugals Kolonialkrieg in Afrika und gegen das Apartheidregime in Südafrika teilgenommen hatte, schrieb mit (dem erst 2017 hierzulande veröffentlichten) „Der Sandmaler“ bereits 1974 den ersten seiner vielen Afrika-Romane und fühlte sich Zeit seines Lebens besonders innig mit diesem Kontinent verbunden. In seinem dritten Roman um den charismatischen Kriminalkommissar Kurt Wallander aus der schwedischen Kleinstadt Ystad verbindet er erstmals auf komplexe Weise einen Mordfall in seinem Zuständigkeitsbereich mit den aufrührerischen Ereignissen in Südafrika auf dem Höhepunkt der Apartheid. Immer wieder wechselt Mankell zwischen den Zeiten und Orten, nimmt sich vor allem viel Zeit, die kritischen Zustände in Südafrika zu beschreiben. Dabei lässt er in seinem Prolog die Ereignisse Revue passieren, die 1918 in Johannesburg zur Gründung des Afrikaner Broederbond geführt haben, mit dem das rassistische Apartheid-Regime seine Rechtfertigung fand. Eindringlich schildert er die Erniedrigung, unter der die Schwarzen in Südafrika leiden, ebenso wie die rassistischen Überzeugungen der Buren, die ihre Macht mit allen Mitteln zu bewahren versuchen, eben auch mit einem Geheimdienst innerhalb des Geheimdienstes.
Mankell beschreibt die ständige Angst vor Überwachung durch eigene wie durch fremde Leute. In dieser Atmosphäre der Angst, der Unsicherheit und des Hasses entwickelt sich ein Mordkomplett von komplexer Vielschichtigkeit, deren Bahnen bis nach Schweden führen. Hier hat Wallander nicht nur mit den für ihn unverständlichen Heiratsabsichten seines alten Herrn, sondern auch mit der Sorge um seine Tochter Linda und der nicht wirklich klar definierten Fernbeziehung zu der in Riga lebenden Baiba Liepa zu tun und wird schließlich mehr mit dem Mordkomplott in Südafrika verwickelt, als ihm lieb sein könnte.
Henning Mankell erweist sich in seinem dritten Wallander-Roman nicht nur als Verfechter der Aufhebung der Rassendiskriminierung in Südafrika, sondern webt aus diesem brodelnden gesellschaftspolitischen Kessel an Gewalt, Unterdrückung und Hass einen durchweg packenden Krimi-Plot, der bei den Vorgängen in Schweden etwas zu übertrieben actionlastig ausgefallen ist, was das Tempo erhöht, aber die Glaubwürdigkeit mindert.

Uwe Kopf – „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“

Mittwoch, 1. April 2020

(Atlantik, 316 S., Tb.)
Am 24. Mai 1998 hat sich der 40-jährige Tom nach Art der Greise aufgehängt, nachdem er sich noch beim Pizzadienst neben der Pizza noch drei Dosen Warsteiner-Bier (das er eigentlich überhaupt nicht mag) bestellt und die Wäsche mit Sunil – wie seine Mutter – gewaschen hatte. Außerdem las er noch James Ellroys „Stiller Schrecken“ zu Ende – übrigens das erste, das er in seinem Leben je ausgelesen hat, ganz anders als sein älterer Bruder Sören, der als Kulturjournalist davon überzeugt ist, dass Bücher sogar Leben retten können. Auch sonst trennen die beiden vaterlos aufgewachsenen Brüder Welten. Während Sören nicht nur einen coolen Beruf hat, sondern auch massenweise Frauen ins Bett bekommt, schlägt sich Tom mit Aushilfsjobs bei der Post durch, konsumiert in seiner Wohnung im Arbeiter-Viertel Hamburg-Berne vorwiegend Horrorfilme und wird wegen seines Aussehens, das wegen der langen Haare an Jesus erinnert, für schwul gehalten.
Was alles schief gelaufen ist in seinem Leben, resümiert der meist aus der Ich-Perspektive erzählende Tom auf den folgenden 300 Seiten. Am Ende werden die Wünsche und das Erreichte auf einem Zettel gegenübergestellt: „Da kommt nix mehr“, heißt es da nur nüchtern. Die Polizei beschreibt dieses Vorgehen als „Bilanzselbstmord“. Dabei gibt es durchaus vielversprechende Ansätze in Toms Leben. Sören vermittelt seinem Bruder zunächst Leserbrief-Aufträge, dann darf er – weil der Redaktion seine Leserbriefe zu Joschka Fischer und der Klappstulle so gut gefielen - sogar Bruce Springsteens neues Album „The Ghost of Tom Joad“ rezensieren. Doch nach einem tollen Eröffnungssatz geht Tom, glühender Anhänger von Rory Gallagher, die Puste aus, und Musikchef René schreibt letztlich die Kritik. Bei den Frauen läuft es auch nicht rund. Mit seiner Verlobten hat er während der zwölf Jahre andauernden Beziehung eigentlich keinen Sex, doch dann geschieht ein Wunder, als die attraktive Ärztin Eva aus Aachen in sein Leben tritt und sich in Tom verliebt. Allerdings will sie mit ihrem ebenfalls noch in der Aachener Nachbarschaft lebenden Ex-Freund John befreundet bleiben, was Tom schier in den Wahnsinn treibt. Sören hält ihn für einen „Liebeskasper“, Eva schlägt ihm sogar eine Eifersuchtstherapie vor. Doch ebenso wie ihm Beruf bricht ihm auch in dieser Hinsicht die Angst zu versagen buchstäblich das Genick …
„Ich bin 40 Jahre alt, nach Eva kommt nichts mehr. Bis ich Eva kennenlernte, dachte ich ja auch, da war nie was, da kommt nichts. Mit Eva hatte ich doch eine ganz neue Welt. Jemand wie ich kann so eine Welt doch gar nicht erwarten. So eine Chance kriege ich nie wieder.“ (S. 305) 
Nachdem Uwe Kopf von 1990 bis 1996 als Textchef bei Tempo tätig gewesen war und für Magazine wie Faces, den Rolling Stone und Theo geschrieben hatte, verstarb er im Januar 2017 kurz nach der Diagnose an einer Krebserkrankung, konnte aber noch die über Jahre gestreckte Arbeit an seinem ersten – und leider auch einzigen – Roman noch beenden, bevor er beim Tempo-Imprint des Hoffmann und Campe Verlags posthum veröffentlicht wurde.
Zwar finden sich viele autobiografische Verweise in „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ wie die Kindheit in Kaiserslautern und die Tatsache, dass sein eigener Bruder Tom hieß und sich selbst umbrachte, aber das spielt für den Unterhaltungswert des Romans überhaupt keine Rolle. Auf ebenso mitfühlende, aber nicht mitleiderregende wie humorvolle Art beschreibt Kopf das Scheitern seines Protagonisten an seinen Lebenserwartungen. Die sind nicht allzu hoch gesteckt - Eva, Respekt, Sinn, Ruhe -, aber am Ende seines vierzigjährigen Lebens scheint davon einfach nichts erreicht worden zu sein. Toms Lebens- und Leidensgeschichte ist überraschenderweise aber überhaupt nicht kitschig melodramatisch, sondern trifft einfach immer den richtigen Ton.
Seine Milieubeschreibungen treffen einfach den Nagel auf den Kopf. Als der Autor beispielsweise Uli Rehberg und seinen legendären Plattenladen „Unterm Durchschnitt“ beschreibt, konnte ich nur lächelnd zustimmend nicken. Aber auch die immer wieder souverän eingeflochtenen Beschreibungen des Zeitgeistes – Vader Abrahams „Lied der Schlümpfe“; der Fall der Mauer in dem Augenblick, als Tom seinen Bruder mit Toms Freundin im Bett erwischt, der Deutsche Herbst mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer, Sean Connerys Besuch in einem italienischen Restaurant anlässlich der Premiere von „Family Business“ und die vielen popkulturellen Verweise auf Musikalben, Filme und Bücher – machen „Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe“ zu einem flüssig und mit lakonischem Humor geschriebenen, schnörkellosen wie tiefgründigen Lesegenuss. Dazu trägt auch die Erklärung bei, wie die Pet Shop Boys zu ihrem Namen gekommen sind …

Jonathan Franzen – „Die Korrekturen“

Sonntag, 29. März 2020

(Rowohlt, 782 S., HC)
Der 39-jährige Chip Lambert holt seine Eltern vom LaGuardia Airport in New York City ab, damit sie mit Nordic Pleasurelines eine weitere Kreuzfahrt antreten können, vielleicht die letzte in ihrem Leben, denn Chips Vater Alfred leidet zunehmend unter Parkinson. Dabei sitzen sie noch immer dem Missverständnis auf, dass Chip beim Wall Street Journal arbeitet. Stattdessen liefert Chip, der vor fast zwei Jahren seine Stelle als Assistenzprofessor im Fachbereich Text-Artefakte an einem College in Connecticut wegen eines Vergehens verloren hatte, in das eine seiner Studentinnen involviert gewesen war, nicht honorierte Beiträge für das Magazin Warren Street Journal: Monatsschrift der Transgressiven Künste ab. Seinen Lebensunterhalt verdient er durch einen Teilzeitjob als Korrektor bei einer Anwaltskanzlei, während sein gerade fertiggestelltes – von vor Phallusängsten und Brüsten triefendes - Drehbuch keinen Abnehmer findet. So bleibt ihm nur seine Wohnung in Manhattan und seine hübsche – leider verheirateten - Freundin Julia. Die hat natürlich von seiner Sexsucht bald genug und sucht das Weite. Interessanterweise erhält Chip ausgerechnet von Julias Mann, den litauischen Diplomaten Gitanas, das Angebot, ihn nach Litauen zu begleiten und bei seinem neuen Projekt zu unterstützen, bei dem es um die Gewinnung internationaler Investoren für die – natürlich betrügerische - „Parteigesellschaft Freier Markt“ geht.
Doch auch seine Geschwister haben ihre Probleme. Gary war erfolgreicher Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank, leidet aber unter Depressionen und dem Gefühl, dass sich seine Frau Caroline und seine drei Kinder gegen ihn verschworen haben. Denise scheint es mit ihren 32 Jahren zunächst gut getroffen zu haben, macht als Spitzenköchin Karriere, doch die Ehe mit dem fast doppelt so alten Emile Berger hält nicht. Denise lässt sich von Brian Callahan engagieren, in den Räumen eines alten Kohlekraftwerks ein eigenes Restaurant zu leiten. Doch als sie sowohl mit Brian als auch seiner Frau Robin eine Affäre beginnt und beide davon erfahren, löst sich ihre Karriere in Luft auf. Von all diesen Problemen bekommen Alfred und Enid Lambert auf ihrem Kreuzfahrtschiff nichts mit. Enid ist nur noch von dem innigen Wunsch getrieben, ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest in St. Jude zu feiern …
„Die letzten acht Weihnachten hatte sie im Exil, im fremden Osten, verbracht, und nun fühlte sie sich endlich zu Hause. Sie stellte sich vor, in dieser Landschaft begraben zu werden. Sie war glücklich bei dem Gedanken, dass ihre Gebeine einst an einem Hang wie diesem ruhen würden.“ (S. 665) 
Jonathan Franzen legte 2002 mit „Die Korrekturen“ seinen dritten Roman vor. Seine ersten beiden Werke „The Twenty-Seventh City“ (1988) und „Strong Motion“ (1992) wurden erst nach dem internationalen Erfolg seines dritten Romans in Deutschland veröffentlicht und untermauerten die erzählerische Qualität des 1959 in Western Springs, Illinois, geborenen und nun in New York lebenden Autors. In „Die Korrekturen“ entwirft er ein Familienportrait, das als Querschnitt der amerikanischen Mittelschicht gelesen werden kann. Während Alfred auf eine erfolgreiche Karriere als Bahningenieur zurückblickt, aber seiner Frau nach zwei Jahre zu früh in Pension gegangen ist, kam seiner Frau die Erziehung der Kinder zu, auf die sie keinen Einfluss mehr ausüben, da sie im ganzen Land verstreut ihren eigenen Lebensentwürfen folgen.
Franzen gibt sich viel Mühe, die einzelnen Biografien minutiös und überzeugend auszugestalten. Dabei bildet Chip das unstete Leben im Kreativ-Bereich ab, wirkt durch seine sexuelle Promiskuität, vor allem aber auch durch sein Engagement in Litauen wie eine Karikatur. Weitaus glaubwürdiger ist der Erzählstrang um den Banker Gary ausgefallen, der nicht wie sein Vater allein für das Aufkommen des Familienunterhalts zuständig ist und sich damit gewisse Rechte bei der Ausgestaltung des familiären Lebens herausnehmen könnte, sondern mit Caroline eine selbstbewusste, finanziell unabhängige Frau an seiner Seite hat, die souverän ihre eigenen Interessen zu vertreten versteht und für den größten Widerstand bei den Weihnachtsplänen ihrer Schwiegermutter sorgt.
Denise wiederum reibt sich zunächst im Beruf auf, trifft aber unglückliche Entscheidungen im Bereich ihrer persönlichen Beziehungen, was nicht ohne Folge auf ihre Karriere bleibt. Sie erweist sich allerdings am Ende als die gute Tochter, die sich im Gegensatz zu ihrem Bruder Gary am meisten darum sorgt, wie es mit ihren Eltern weitergeht. All diese Einzelschicksale verwebt Franzen zu einem großen Familienroman, der einerseits den Wechsel im Umgang mit Traditionen von einer Generation zur nächsten nachvollzieht, zum anderen aber auch die Probleme zunehmend individualisierter Lebensentwürfe in einer post-modernen Welt aufzeigt.
Franzen bezieht dabei die Probleme der „New Economy“ ebenso mit ein wie die Schwierigkeit, bei der grenzenlos erscheinenden Auswahl an geschlechtlichen und gesellschaftlichen Rollen seinen eigenen Weg zu finden, ohne die eigenen Eltern mit ihren festen Moralvorstellungen zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Dabei bedient sich der Autor einer wunderbar fließenden, bildgewaltigen Sprache, die viel Humor und Sympathie für die Figuren erkennen lässt.

Francis Fukuyama – „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“

Samstag, 28. März 2020

(Atlantik, 238 S., Pb.)
Der 1952 geborene Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat 1992 mit seinem Bestseller „Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?“ darauf hingewiesen, dass weder Nationalismus noch Religion als Kräfte der Weltpolitik verschwinden würden. Die Tatsache, dass ein Vierteljahrhundert später ausgerechnet die wegweisenden Demokratien der USA und Großbritanniens mit der Wahl Donald Trumps einerseits und dem Beschluss, die Europäische Union zu verlassen andererseits, beängstigender Ausdruck nationalistischer Tendenzen geworden sind, haben den in Stanford lehrenden Professor dazu bewogen, mit seinem schmalen Band „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ eine neue Bestandsaufnahme der Weltpolitik vorzunehmen.
Nachdem die Anzahl repräsentativer Demokratien zwischen den frühen 1970er und 2005 von ungefähr 35 auf über 110 angestiegen war, was mit einem Anwachsen wirtschaftlichen Austauschs (Globalisierung), der Vervierfachung weltweit produzierter Güter und erbrachter Dienstleistungen sowie der Verringerung des Anteils der unter extremer Armut leidenden Menschen um 17 Prozent einherging, ist die Tendenz mittlerweile rückläufig. Der Autor nennt in diesem Zusammenhang die 2008 vom US-amerikanischen Subprime-Markt verursachte Große Rezession und die Euro-Krise nach der drohenden Staatspleite Griechenlands. Russland und China nutzten diese Ereignisse, um eindeutig undemokratische Wege zu mehr Reichtum und Selbstbewusstsein einzuschlagen, 2011 sorgte der Arabische Frühling zwar zunächst für eine Zerschlagung von Diktaturen im Nahen Osten, konnte aber die Hoffnungen auf demokratische Prozesse nicht erfüllen, so dass sich Libyen, der Jemen, Irak und Syrien in Bürgerkriegen zerfleischten.
Als gemeinsamen Nenner für diese an sich ganz unterschiedlichen Ereignisse sieht Fukuyama das Problem der sogenannten „Identitätspolitik“. Überall auf der Welt würden sich Menschen nicht mehr damit abfinden, respektlos behandelt zu werden. Sowohl die Schwulenbewegung, die Frauenbewegung als auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die jüngste #MeToo-Debatte haben darauf aufmerksam gemacht, dass sich Menschen wegen ihrer Rasse, ihrer Religionszugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Ausrichtung diskriminiert fühlen, und zwar über politische und kulturelle Grenzen hinweg. So verstand es Osama bin Laden beispielsweise, seinen Zorn über die Kränkung der Muslime in der ganzen Welt in seiner Al-Qaida-Bewegung so zu mobilisieren, dass sie mit Gewalt für einen Islamischen Staat eintraten.
In den USA waren es vor allem die ländlichen Wähler, die sich von den städtischen Oberschichten beider Küsten ignoriert fühlten und dankbar Trumps Wahlkampfslogan „Make American Great Again“ aufnahmen. Die Demokratien in aller Welt haben es bislang nicht verstanden, dem individuellen Wunsch nach Würde und Respekt befriedigend zu entsprechen. Schließlich hat schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel darauf aufmerksam gemacht, dass der Kampf um Anerkennung die höchste Antriebskraft der Menschheitsgeschichte sei.
„Viele zeitgenössische liberale Demokratien stehen vor einer immensen Herausforderung. Sie haben einen raschen wirtschaftlichen Wandel durchgemacht und sind infolge der Globalisierung weitaus vielfältiger geworden. Dadurch ist das Verlangen nach Anerkennung bei Gruppen geweckt worden, die früher für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar waren. Solche Wünsche bewirken einen subjektiv empfundenen Statusverlust bei den von ihnen verdrängten Gruppierungen und lösen eine Politik des Unmuts und der Gegenreaktion aus.“ (S. 194) 
Für Fukuyama besteht die Herausforderung darin, das drängende Problem der steigenden Anzahl von Immigranten dadurch zu lösen, dass die Immigranten in die nationale Bekenntnisidentität eines Landes einbezogen werden, denn nur so können sie eine gewinnbringende Vielfalt in die Gesellschaft tragen, während schlecht integrierte Einwanderer eine Belastung für den Staat und sogar eine Gefahr für die Sicherheit wären. Fukuyama führt seine klugen Überlegungen knapp und anschaulich aus, bemüht griechische Philosophen, frühneuzeitliche Denker wie Hobbes, Locke und Rousseau bis zu Soziologen und Politikwissenschaftler wie Samuel P. Huntington, um die Entwicklung des Identitätsbegriffs und den damit zusammenhängenden Problemen in immer komplexeren Gesellschaften zu beschreiben, wobei er überzeugend darlegt, warum gerade die linken Parteien an den aktuellen Herausforderungen scheitern.
Es sind zwar keine wirklich neuen Erkenntnisse, die der renommierte Politikwissenschaftler hier auftischt, aber in der Beobachtung und Analyse der gegenwärtigen globalen Krisen bietet „Identität“ einen kompakten Überblick.
Leseprobe Francis Fukuyama - "Identität"

Håkan Nesser – „Der Choreograph“

Mittwoch, 25. März 2020

(btb, 256 S., HC)
„Ich bin kein Schriftsteller, kein Mensch, der schreibt. Ich kann es nicht prinzipiell leugnen, dass mir der Prozess an sich gefällt, Buchstaben, Worte, einen Sinn zu formen, auf weißem Papier; aber nach vielen Stunden mit Stift und Notizbuch bin ich meistens nicht besonders interessiert an dem Ergebnis“, bekennt der Ich-Erzähler, den wir später nur durch einen Brief seiner Geliebten als David identifizieren können, gleich zu Beginn seiner ungewöhnlichen Erzählung. Sie beginnt in einem Eisenbahnabteil, einer unbekannten Landschaft mit einer unbekannten Frau, die der Reisende auf Deutsch angesprochen hat.
Er beobachtet aus den Augenwinkeln, wie sich ein Soldat dieser Frau nähert, doch das erotisch anmutende Intermezzo fällt in sich zusammen, als sich der Erzähler mit einem Schlucken bemerkbar macht. So ähnlich verhält es sich mit der schicksalhaften Bekanntschaft, die der Mann am Ziel seiner Reise macht. In K. begegnet der Mann, der vor zehn Jahren seine zweijährige Ehe scheiden ließ, in einem Geschäft der „schönsten Frau der Welt“. Er spricht die Frau namens Maria in dem roten Kleid mit den schwarzen Applikationen an, sie verabreden sich für den Nachmittag und lieben sich auf eine Weise, die in dem Erzähler das Verlangen nach Mehr weckt.
Doch Maria verschwindet immer wieder spurlos, bekennt, dass sie mit ihm nicht zusammen sein könne, kommt aber auch nicht von ihm los. Was folgt, ist eine kuriose Odyssee, eine Suche, in die schließlich auch Davids Kollegen von der Universität einbezogen werden, als er zusammen mit ihnen einen Ausflug in die Berge unternimmt. Doch ein romantisches Happy End ist dieser Beziehung natürlich nicht vergönnt …
„Wie konnten wir diese lange Zeit über zusammen sein, ohne Fragen zu stellen? Wie sonderbar erscheint das doch im Nachhinein. Einem anderen Menschen so nah zu sein und trotzdem nicht zu wissen, wer er eigentlich ist.
Doch etwas sagte mir, dass es genau so sein sollte.“ (S. 111) 
Der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser ist durch seine charismatischen Kommissare bekannt geworden, vor allem mit der Reihe um Van Veeteren, die 1993 mit „Das grobmaschige Netz“ begann, später auch mit Gunnar Barbarotti, der 2006 in „Mensch ohne Hund“ seinen Einstand feierte. Doch bereits 1988 veröffentlichte Nesser mit „Koreografen“ seinen ersten Roman, der nun – längst überfällig – als limitierte Sonderausgabe anlässlich des 70. Geburtstags des Autors erschienen ist. Literarisch ist „Der Choreograph“ schwer einzuordnen. Das hängt vor allem mit der eigenwilligen Struktur der Erzählung zusammen. Was für den Ich-Erzähler als leidenschaftliche Romanze in einer fremden Stadt beginnt, entwickelt sich nur kurz zu einem Krimi-Plot, wenn die Suche nach Maria thematisiert wird und die Begegnung mit ihrem Mann einen dramatischen Höhepunkt zu versprechen scheint. Doch Nesser untergräbt die Erwartungshaltung des Publikums immer wieder geschickt. Indem Nesser die Geschichte in die Hände seines Erzählers legt, sind die Leser den Launen und der tiefer liegenden psychischen Befindlichkeiten ausgeliefert, also auch den unvermuteten Wechseln von Zeit, Ort und betroffenen Personen.
Es lässt sich gut nachvollziehen, dass „Der Choreograph“ erst jetzt in deutscher Übersetzung erscheint, denn für einen gänzlich unbekannten Autor wäre es schwer gewesen, mit so einem Stück die Lesermassen zu gewinnen. Dafür verschließt sich der Plot einer nachvollziehbaren Struktur, und nicht wenige Handlungsstränge verlaufen einfach im Nichts, bis auch das Ende viele Leser unbefriedigt zurücklassen wird. Auf der anderen Seite präsentiert „Der Choreograph“ bereits die schriftstellerischen Stärken des schwedischen Bestsellerautors, nämlich das immens ausgeprägte Einfühlungsvermögen in seine Figuren. Die bruchstückhaften Erzählungen, Erinnerungen und Phantasien, die der Ich-Erzähler lose aneinanderreiht, packen den Leser auf einer emotionalen Ebene und lassen ihn dann auch nicht mehr los, so dass es am Ende nicht viel ausmacht, dass eine konventionelle Auflösung der geschilderten Ereignisse ausbleibt.
Das mag nicht für alle Leser zutreffen. Abgerundet wird das Buch übrigens von einem sehr informativen Vorwort von Eugen G. Brahms und einem Nachwort von Paula Polanski, von der das zusammen mit Håkan Nesser veröffentlichte „Strafe“ ebenfalls bei btb erhältlich ist.
Leseprobe Hakan Nesser - "Der Choreograph"

Irvine Welsh – „Die Hosen der Toten“

Sonntag, 22. März 2020

(Heyne Hardcore, 474 S., HC)
1993 zeichnete der schottische Autor Irvine Welsh mit „Trainspotting“ das gelungene Portrait einer jungen Generation, für die es in der von Arbeitslosigkeit und Mietskasernen geprägten Post-Thatcher-Ära keinen Platz mehr in der Gesellschaft gab und die deshalb im Drogen- und Alkoholrausch versank. Mittlerweile, wir schreiben das Jahr 2015, sind die aus dem Edinburgher Stadtteil Leith stammenden Freunde Simon David „Sick Boy“ Williamson, Danny „Spud“ Murphy, Mark Renton und Francis James Begbie erwachsen geworden, doch nicht allen ergeht es so gut wie Mark, der als erfolgreicher DJ-Manager durch die Welt jettet, um seinen Klienten vor allem Drogen und Prostituierte zu beschaffen.
Als er auf einem Flug nach Los Angeles aber unerwartet seinem Erzfeind Franco/Frank/Francis Begbie begegnet, geht ihm ordentlich die Flatter, denn wie seine anderen ehemaligen Kumpel hat Renton auch Begbie damals um ein kleines Vermögen betrogen. Doch Begbie, der sich mittlerweile einen Namen als Künstler machen konnte und nun mit seiner Frau Melanie in Kalifornien, hegt überhaupt keine Rachegedanken.
Den anderen beiden Leith-Jungs ist es nicht so gut ergangen. Spud hat Rentons Rückzahlung der 15.000 Pfund gleich wieder in Drogen investiert und ist im illegalen Organhandel tätig. Dumm nur, dass sein Hund Toto die Niere anknabbert, die er nach Berlin transportieren soll. Dafür wird er selbst übel bluten müssen. Und Simon betreibt mit Colleagues einen exklusiven Escort-Service und wird Zeuge, wie sein sexsüchtiger Schwager Euan McCorkindale Ehebruch begeht, als das Video von seinem Seitensprung der ganzen Familie vorgeführt wird. Doch das ist nur der Anfang einer ganzen Reihe von schicksalhaften Begegnungen in ihrer alten Heimat Edinburgh, wo sich ein vertrauter Strudel aus Alkohol- und Drogenmissbrauch, ungeschützten, wilden Sex-Eskapaden und brutaler Gewalt entlädt und alte Ressentiments wieder aufbrechen lässt …
„Überall wimmelt es von alten Bekannten, wie zum Beispiel ,Trimmrad‘, die wir so genannt haben, weil sich jeder auf ihr abstrampelte, sie sich dabei aber kein Stück bewegte. Kaum erkennt sie mich, setzt sie diesen gleichzeitig nuttigen und unsicheren Gesichtsausdruck auf, den sie schon in den Leith-Academy-Tagen zur Schau gestellt hat. An ihrer Lippe klebt ne Zigarette. Ihr abwesender Blick und der durchgescheuerte Schulterriemen ihrer Handtasche lassen vermuten, dass Letztere am Ende des Tages nicht mehr in ihrem Besitz sein wird.“ (S. 305) 
Irvine Welsh hat es mit seiner „Trainspotting“-Reihe, zu der die Fortsetzung „Porno“ und das Prequel „Skagboys“ zählen, wie sein schottischer Kollege John Niven mit seiner trashigen Sprache und den humorvollen Szenarien voller abgefuckter Typen zum Kult-Autor gebracht.
Mit „Die Hosen der Toten“ bringt er die Reihe zu einem würdigen Abschluss, wobei es vor allem interessant zu verfolgen ist, was aus den damals so unterschiedlich veranlagten Versagern, die sich nur um Sex, Drugs und ebenso berauschende Tanzmusik kümmerten, nach über zwanzig Jahren so geworden ist. Dabei lässt Welsh seine rein männlichen Protagonisten abwechselnd die Erzählperspektive einnehmen, ohne ihnen allerdings eine eigene Stimme zu verleihen. Je mehr die einzelnen Handlungsstränge voranschreiten, um so mehr entsteht der Eindruck, als seien die Leith-Jungs, aus denen Begbie schließlich noch Büsten gießt, die für viel Geld den Besitzer wechseln, in ihrer Entwicklung nicht weiter vorangeschritten.
Zwar spielt die Musik nicht mehr so eine prägende Rolle in ihrem Leben, Sex und Drogen aber schon. Tatsächlich präsentiert sich Welsh in den Szenen, die von den merkwürdigsten – natürlich männlichen - Sex-Erlebnissen und -Phantasien handeln, am erfindungsreichsten, auch in sprachlicher Hinsicht. Stephan Glietsch hat hier großartige Arbeit bei der Übersetzung geleistet. Allerdings dürfte „Die Hosen der Toten“ mit seiner frauenfeindlichen Tonart tatsächlich nur ein männliches Publikum begeistern. Die Geschichte wirkt dabei seltsam zusammengestückelt, episodenhaft, die Figuren wenig konturiert, da sie nur von primitivsten Begierden getrieben werden.
Wer an den bisherigen „Trainspotting“-Büchern Gefallen fand, wird auch „Die Hoten der Toten“ unterhaltsam finden, doch ein ganz großes Finale stellt dieser Roman nicht dar. Dafür scheint Welsh zu sehr an oberflächlich zündenden Gags als an der Entwicklung seiner Figuren und der Beschreibung – selten vorkommender – familiärer Konzepte gelegen zu sein.
Leseprobe Irvine Welsh - "Die Hosen der Toten"

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 4) „Lupus“

Sonntag, 15. März 2020

(dtv, 608 S., Pb.)
Nachdem der ehemalige, mit dem Tapferkeitsorden ausgezeichnete Elite-Soldat Niels Oxen zusammen dem ehemaligen PET-Geheimdienstchef Axel Mossman, dessen Neffen Christian Sonne und dessen Mitarbeiterin Margarethe Franck dabei half, den mächtigen Geheimbund Danehof zu zerschlagen, will sich Oxen zunächst um eine Annäherung zu seinem 14-jährigen Sohn Magnus kümmern, doch die gemeinsamen Besuche im Kopenhagener Zoo an den Wochenenden tragen nicht wirklich dazu bei. Auch seine regelmäßigen Termine bei einer Psychologin im Veteranenzentrum der Armee schaffen keine Abhilfe gegen Oxens Unwillen, Veranstaltungen mit größerem Menschenaufkommen zu besuchen, und andere Folgen seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Eines Tages kommt Mossman zu Besuch, der jetzt einer eigenen Kommission vorsitzt und bei der Durchforstung der Danehof-Archive auf weiteres Unheil gestoßen ist, das sich zwar erst als undeutlicher Schatten abzeichnet, aber der anglizistisch veranlagte Mossman würde seinen „black knight in shining armour“ gern nach Jütland schicken, um auf einem abgelegenen Bauernhof einige Voruntersuchungen anzustellen.
Er macht Oxen den Ausflug nach Harrildholm mit der Aussicht schmackhaft, dass er auf dem Weg dahin auch das Haus in Brande besuchen könnte, wo er einst bei der Fischzucht gearbeitet hatte, um mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit abschließen zu können. Trotz seiner Absicht, nicht mehr für Mossman arbeiten zu wollen, ist Oxen nicht abgeneigt, nach dem vermissten Poul Hansen in der Harrilder Heide zu suchen, zumal in der Gegend nach zweihundert Jahren wieder Wölfe gesichtet worden sind, die Oxen schon immer fasziniert haben. Sein Sohn, der er mitgenommen hat, wird bei der ersten Besichtigung des Hofes Zeuge, wie sein Vater einen Einbrecher ausschaltet, und wenig später überschlagen sich die Ereignisse, bei denen Mossman und Oxen einer Organisation namens Lupus auf die Spur kommen, die die Justiz immer dann selbst in die Hand nimmt, wenn die staatliche Rechtsprechung zu versagen scheint. Und die Hinweise führen auch zwölf Jahre zurück, als Margarethe Franck nach einem Banküberfall den vermeintlichen Fahrer des Fluchtwagens erschoss und dabei ihr Bein verlor …
„Dort draußen waren Schatten. Schatten, die Risiken eingingen. Lupus-Schatten, die bis in Mossmans Anfangsjahre zurückreichten, vage Spuren eines feuchtfröhlichen Sommerabends unter Polizisten, auf einem Gartenfest in Roskilde … Und Jahre später auf einer Geburtstagsfeier im Søpavillon. Schatten, deren Existenz nur durch einen kleinen Fetzen Papier in den Hinterlassenschaften eines ehemaligen PET-Chefs angedeutet wurde, auf dem ein Millionenbetrag notiert worden war.“ (S. 298) 
Jens Henrik Jensen hat viele Jahre lang als Journalist in seiner dänischen Heimat gearbeitet und 1997 seinen Debütroman „Wienerringen“ veröffentlicht, bevor er sich seit 2015 ganz auf das Schreiben von Büchern verlegte. Mit seiner zwischen 2012 und 2016 erschienenen Trilogie um den hochdekorierten Ex-Jäger-Soldaten Niels Oxen hat Jensen schließlich auch international die Bestseller-Listen gestürmt und verständlicherweise weiterhin Lust gehabt, die Geschichte um seinen interessanten Protagonisten weiterzuerzählen.
Auch wenn der mächtige Danehof durch das beherzte Zusammenwirken von Mossman, Franck, Oxen und Sonne demaskiert und zerstört werden konnte, sind die staatsfeindlichen Kräfte in Dänemark natürlich nicht ausgemerzt. Der „Lupus“-Fall vereint nicht nur die Faszination für die in die Harrilder Heide zurückgekehrten Wölfe mit der nach dem Canis Lupus benannten Organisation, sondern versucht zumindest ansatzweise die persönliche Entwicklung des traumatisierten Ex-Elitesoldaten zu charakterisieren. Allerdings belässt es Jensen hier bei unbefriedigenden Ansätzen und konzentriert sich schnell auf die zunehmend komplexer werdenden Ereignisse auf dem verlassenen, aber von Kameras überwachten Hof in Mitteljütland. Hier erweist sich einmal mehr die Stärke des Autors. Während seine Figuren zwar an sich interessant sind, aber kaum tiefergehend charakterisiert werden, versteht er es meisterhaft, verschiedene zunächst unabhängig voneinander beobachtete Ereignisse nach und nach miteinander zu vernetzen. Mossman bleibt dabei so undurchsichtig wie eh und je, wobei seine ständig eingeworfenen Anglizismen auch schon nerven. Am meisten gewinnt noch Margarethe Franck an Profil, wenn die Ereignisse rekapituliert werden, unter denen sie ihr Bein verlor.
Spannung generiert „Lupus“ aber vor allem aus den wieder bis in die höchsten Polizeidienststellen reichenden Verwicklungen, die in professionell ausgeführten Selbstjustiz-Aktionen münden. Jens Henrik Jensen versteht es dabei, gesellschaftspolitisch relevante Themen fundiert aufzuarbeiten – wobei ihm sein journalistischer Hintergrund sicherlich förderlich ist – und diese in packende Thriller-Unterhaltung zu verpacken. An der Konturierung und Entwicklung seiner Figuren sollte Jensen aber noch arbeiten.
Leseprobe Jens Henrik Jensen "Lupus"

John Grisham – „Die Wächter“

Sonntag, 8. März 2020

(Heyne, 448 S., HC)
Cullen Post arbeitet für die gemeinnützige Organisation Guardian Ministries, die vor zwölf Jahren von Vicky Gourley gegründet wurde und es sich zur Aufgabe gemacht hat, unrechtmäßig (oft zum Tode) verurteilte Menschen zu rehabilitieren. Der 38-jährige Duke Russell ist derzeit einer von Posts fünf Mandaten. Er soll vor elf Jahren Emily Broone vergewaltigt und ermordet haben und wurde dafür vor fünf Jahren zum Tode verurteilt. Der ermittelnde Staatsanwalt Chad Falwright hat Posts Meinung nach damals schlampige Ermittlungen geführt und den damals zweiundzwanzigjährigen Mark Carter, der das Opfer als Letzter lebend gesehen hat, gar nicht als Verdächtigen eingestuft, während Post ihn für den Täter hält. Er muss es nur noch beweisen.
Damals wurden Bissspuren und Schamhaare von Pseudo-Sachverständigen zu erdrückenden Beweisen hochstilisiert, obwohl keine DNA-Analysen der Schamhaare durchgeführt wurden. Nachdem das Todesurteil für Russell aufgeschoben worden ist, widmen sich Post und sein schwarzer Kollege Frankie Tatum einem Fall, der bereits seit drei Jahren auf dem Schreibtisch von Guardian Ministries liegt: Quincy Jones wurde wegen Mordes an dem 37-jährigen Anwalt Keith Russo zum Tode verurteilt und wartet seit 22 Jahren im Gefängnis auf die Vollstreckung des Urteils.
Jones war damals Russos Mandant in Seabrook, aber unzufrieden mit dem Ergebnis, wie er die ihm anvertraute Scheidungsangelegenheit geregelt hatte. Verschiedene offensichtlich falsche Aussagen, von einem Gefängnisspitzel ebenso wie von Quincys Ex-Frau Diana, besiegelten das Urteil. Vor allem wurde dem Angeklagten eine Taschenlampe zum Verhängnis, die im Kofferraum von Quincys Wagen gefunden wurde, die ein Sachverständiger als Tatwaffe deklarierte, obwohl er das Objekt nie gesehen, sondern seine Blutspurenanalyse nur aufgrund von Farbfotos durchgeführt hatte. Doch als sich Post und seine Kollegen näher mit dem Fall befassen, stoßen sie auf ein undurchdringliches Geflecht aus Korruption und Intrigen.
Obwohl Guardian Ministries in erster Linie darum bemüht ist, bei ihren ausgesuchten Fällen die für unschuldig gehaltenen Mandanten wieder in Freiheit zu sehen, liegt Post in diesem Fall auch viel daran, den wahren Täter zur Verantwortung zu ziehen. Seiner Meinung nach steckt der korrupter Sheriff Pfitzner hinter dem Verbrechen, weil er verhindern wollte, dass Russo, der sein Geld vor allem als Anwalt für die Drogenmafia machte und schließlich vom FBI als Informant umgedreht wurde, sein Wissen um Pfitzners Beteiligung an dem Komplott kundtun konnte. Doch nicht zuletzt die in den Fokus der Ermittlungen gerückte Mafia versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt …
„Sie wollen sich uns nicht offen in den Weg stellen, uns Angst einjagen, uns einschüchtern, zumindest jetzt noch nicht, weil das ihre Existenz bestätigen würde und sie wahrscheinlich ein weiteres Verbrechen begehen müssten, was sie gern vermeiden würden. Ein Feuer, eine Bombe oder eine Kugel könnten hohe Wellen schlagen und Spuren hinterlassen.
Quincy aus dem Weg zu räumen ist die einfachste Methode, die Ermittlungen zu torpedieren.“ (S. 274) 
John Grisham, der selbst jahrelang als Anwalt praktiziert hat, lässt sich für seine Romane immer wieder von realen Fällen inspirieren, so auch für „Die Wächter“. Wie der US-amerikanische Bestseller-Autor in seiner Anmerkung am Ende erwähnt, hat er den Fall des immer noch inhaftierten Joe Bryan, der vor dreißig Jahren zu Unrecht verurteilt worden war, seine Frau ermordet zu haben, und dafür noch immer in einem texanischen Gefängnis einsitzt. Grisham macht überhaupt keinen Hehl daraus, was er von der amerikanischen Justiz hält, die sich viel zu sehr auf Möchtegern-Sachverständige verlässt, die für ansehnliche Honorare alles aussagen, was die Ankläger hören wollen. Die Schwarz-Weiß-Malerei wirkt bei John Grisham gerade bei „Die Wächter“ etwas sehr dick aufgetragen, aber da er die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Cullen Post schreibt, der aus eigener Erfahrung gelernt hat, wie fehlerhaft das Justiz-System in den USA funktioniert, fällt dieses Manko im Verlauf der Geschichte immer weniger ins Gewicht.
Dafür entwickelt der Plot – wenn auch auf sehr vorhersehbaren Bahnen – einen unwiderstehlichen Sog, der seine Spannung vor allem durch die Suche nach neuen Beweisen generiert, die Posts Mandanten endgültig entlasten. „Die Wächter“ zählt zwar nicht zu den stärksten Werken von John Grisham, macht aber – wieder einmal - thematisch auf eine erschreckende Ungerechtigkeit im US-amerikanischen Justizsystem aufmerksam.
Leseprobe John Grisham - "Die Wachter"

Hari Kunzru – „Götter ohne Menschen“

Dienstag, 3. März 2020

(Liebeskind, 414 S., HC)
Im Jahre 1947 ließ sich der ehemalige Flugzeugingenieur Schmidt in der kalifornischen Mojave-Wüste an einem Ort in der Nähe der drei Felssäulen der Pinnacles nieder, weil er dort mit Wünschelrute und Bodenmessgerät ein Kraftfeld entdeckt hat, eine natürliche Antenne, mit der er Kontakt zu Außerirdischen aufnehmen könnte. Er pachtete das gewünschte Gelände für zwanzig Jahre, kaufte sich einen gebrauchten Airstream-Trailer, entdeckte schließlich eine alte Goldgräberhöhle in den Felsen, legte eine Landepiste für Flugzeuge an und eröffnete ein kleines Café, in dem er Kaffee und Spiegeleier servierte, um nicht nur seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern vor allem seine Botschaft von Liebe und Brüderlichkeit zwischen allen Wesen im Universum zu verbreiten. Tatsächlich entdeckte er eines Abends ein helles Licht über dem Horizont, beobachtete die Landung eines Fahrzeugs und begrüßte zwei menschliche Gestalten in weißen Gewändern.
Elf Jahre später versuchte er die Botschaft des Weltfriedens durch den dort errichteten Ashtar Galactic Command an möglichst viele Menschen zu verbreiten. Bereits 1778 war dort dem Missionar Fray Francisco Hermenegildo Tomás Garcés ein Engel erschienen. Nun machen sich Jaz und Lisa Matharu mit ihrem autistischen Sohn Raj auf dem Weg in diese Wüste, wo sie hoffen, dem stressigen Alltag in New York zu entkommen und ihre Ehe zu kitten hoffen. Dass Jaz als Trader an der Wall Street für den Familienunterhalt aufkam und Lisa sich allein um die Erziehung ihres problematischen Sohnes kümmern musste, hat der Beziehung ebenso wenig gutgetan wie Jaz‘ familiärer Hintergrund. Obwohl er in Baltimore und nicht in Indien aufgewachsen ist, hängen ihm seine Eltern nach wie vor mit den Traditionen und Vorstellungen ihrer Heimat in den Ohren. Doch der Ausflug zu den Felsen endet in einem Fiasko. Nach einem lauten Knall ist Raj plötzlich spurlos verschwunden.
Die Suche nach Raj nimmt die Polizei und die Aufmerksamkeit der Medien voll in Anspruch. Je mehr Zeit vergeht, ohne dass der Junge wieder auftaucht, umso öfter tauchen im Internet Vermutungen auf, dass Jaz und Lisa für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich sind …
„Bald würde von Raj nichts mehr übrig sein als ein paar blanke Zettel an den Pinnwänden des Nationalparks. Wenn der letzte Journalist ihn vergessen hatte, würden Lisa und er ebenfalls verschwinden, ausgelöscht aus dem kollektiven Gedächtnis.“ (S. 351)
Seit seinem Debütroman „The Impressionist“, der 2002 in deutscher Übersetzung als „Die Wandlungen des Pran Nath“ erschien, zählt der britische Journalist („The Guardian“, „Daily Telegraph“, „Wired“) und Romanautor Hari Kunzru zu den interessanteren Stimmen der Gegenwartsliteratur und wurde 2003 sogar von der Literaturzeitschrift „Granta“ unter die zwanzig besten jungen britischen Romanautoren gewählt. Nach seinem Einstand bei Liebeskind mit „White Tears“ legt der Sohn einer Engländerin und eines Inders mit „Götter ohne Menschen“ einen Roman vor, der zwar auf unterschiedlichen Zeitebenen angelegt ist, im Grunde genommen aber über ein 230 Jahre auf einen Ort fokussiert ist, nämlich den Pinnacles-Nationalpark in Kalifornien.
Hier kommt es über all die Jahrzehnte zu ganz unterschiedlichen Ereignissen, die aber allesamt einen mystischen Kontext besitzen. Dem jeweiligen Zeitgeist angemessen kommt es hier zunächst zu göttlichen Erscheinungen, Begegnungen mit Außerirdischen und zu einer sektenähnlichen Verbindung, die ihre eigene Art findet, ihre Botschaft der Liebe und des Weltfriedens zu verbreiten. Anno 2008 ist von diesen Motiven wenig übriggeblieben. Das bekommen Kunzrus Protagonisten Jaz und Lisa besonders deutlich zu spüren, als ihr Sohn unter mysteriösen Umständen verschwindet. An ihrem Schicksal zeigt der Autor wunderschön auf, wie ein solch dramatisches Ereignis nicht mehr mit guten oder bösen Mächten in Verbindung gebracht wird, sondern einfach nur noch als Medienereignis zelebriert wird. Die Rolle wie auch immer gearteter göttlicher Wesen und Mächte haben längst die Foren, Blogs und Tweets im Internet übernommen, wo blitzschnell Meinungen gebildet, verbreitet und letztlich für bare Münze gehalten werden, was letztlich den Erfolg von Donald Trumps Regierungskonzept erklärt.
Doch Kunzru zeigt nicht nur den modernen Umgang mit unerklärlichen Ereignissen auf, sondern skizziert in den weitaus kürzeren Episoden, die sich seit 1778 bis in die jüngere Vergangenheit erstrecken, wie sich das Verhältnis des Menschen zu Gott entwickelt hat, wie sich im Zuge dessen die Strukturen von Selbstbetrachtung, Identität, Meinung, Glaube und Macht verschoben haben. Allerdings enthält sich Kunzru dabei einer Wertung, sondern beschränkt sich darauf, die Zeichen der jeweiligen Zeit in episodenhaften Geschichten zu thematisieren. Dabei gewinnen einzig Jaz und Lisa etwas an Persönlichkeits-Struktur mit Identifikations-Potential.
„Götter ohne Menschen“ überzeugt aber ohnehin weniger durch die Hauptgeschichte um das Schicksal einer Familie, die an dem Verschwinden des Kindes zu zerbrechen droht, sondern als akzentuierte Gegenüberstellung der Entwicklungsgeschichte menschlichen Glaubens.
Leseprobe Hari Kunzru - "Götter ohne Menschen"

Alexander Kluy – „Clint Eastwood“

Freitag, 28. Februar 2020

(Reclam, 102 S., Tb.)
Der US-amerikanische Schauspieler, Produzent und Regisseur Clint Eastwood hat in Hollywood deutliche Spuren hinterlassen. Er ist nicht nur als ausgesprochen vielseitiger, produktiver und sehr strukturierter Filmemacher bekannt, der als letzter Regisseur bedeutender Western in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren auch noch im 21. Jahrhundert arbeitet, wie der Autor auf den ersten Seiten seiner Abhandlung über den mittlerweile 89-Jährigen schreibt, sondern längst auch der erfolgreichste Schauspieler-Regisseur-Produzent der Filmgeschichte.
Wenn sich Eastwood selbst beschreibt, bezeichnet er sich einfach als „storyteller“. Es sind Dramen über das Altern und den sich damit verändernden Blick auf die Welt, über Menschen und ihre Beziehungen zueinander, über Tod und Gewalt. Ebenso weist Kluy zu Anfang schon auf die effiziente Arbeitsweise des Filmemachers hin, der schon 1967 mit Malpaso seine eigene Produktionsfirma gründete und seine Werke in 35 bis 39 Tagen abdreht, was auch darauf zurückzuführen ist, dass er über die vielen Jahrzehnte mit einer ausgewählten Crew zusammenarbeitet.
Kluy, der u.a. für „Der Standard“, „Buchkultur“ und „Psychologie Heute“ schreibt, rekapituliert Eastwoods Karriereanfänge, die über kuriose Nebenrollen bis zur Hauptrolle in der Western-Serie „Rawhide“ (Tausend Meilen Staub) führte, bevor er in Sergio Leones berühmt gewordenen Italo-Western „Für eine Handvoll Dollar“ (1964) zum international gefragten Filmstar avancierte. Es folgte der Beginn der erfolgreichen Zusammenarbeit mit Regisseur Don Siegel (u.a. „Coogan’s großer Bluff“, „Dirty Harry“, „Flucht von Alcatraz“) und mit dem Erfolg auch die Möglichkeit, sich seine Projekte aussuchen zu können. Dabei bewies er zwar nicht immer ein glückliches Händchen (siehe u.a. „Firefox“, „City Heat“, „Rookie – Der Anfänger“), doch zog Eastwood stets die richtigen Schlüsse aus seinen Fehlgriffen und avancierte spätestens mit seinem ersten Oscar-prämierten Spätwestern „Erbarmungslos“ (1992) zu einem anerkannten Meister seines Fachs, wie nachfolgende Werke wie „Die Brücken am Fluss“, „Perfect World“, „Mystic River“ und „Million Dollar Baby“ bestätigen sollten.
„Mainstream zu sein und dabei hochgradig manipulativ, indem er seine Star-Persona demontierte, kaum zu zerstören und gebrochen, fragmentiert und verletzlich, diese eigentlich unüberbrückbaren Gegensätze vermochte Eastwood zu überwinden. Er brachte den Traum auf die Leinwand, dass der Einzelne sich über moraljuristische Bedenken und eine behäbige, politisch manipulierbare Bürokratie erheben und nach seinem eigenen Leitgesetz agieren kann.“ (S. 99) 
Alexander Kluy gibt auf 100 Seiten eine wirklich gelungene Einführung in das Leben und Wirken von Clint Eastwood, wobei er sich glücklicherweise nicht nur auf die Aufzählung interessanter Fakten beschränkt, sondern auch auf die Rezeption und Interpretation einiger Schlüsselwerke des noch immer nicht müden Filmemachers eingeht. Neben einigen wenig bekannten Fotos runden auch einige Infografiken beispielsweise zu den rasant gestiegenen Produktionsbudgets von „Für ein paar Dollar“ (200.000 US-Dollar) bis zu „Space Cowboys“ (65 Millionen US-Dollar), zu der Entwicklung von Eastwoods Honoraren und zu den von Clint Eastwood in seinen Filmen verwendeten Waffen das Büchlein ab, in dem auch Eastwoods politischen Ambitionen und familiären Verhältnisse skizziert werden. Einige – meist englischsprachige – Lektüretipps zum Weiterlesen runden dieses feine Bändchen ab.

Helmut Reinalter – „Geheimbünde“

(Reclam, 100 S., Tb.)
Die Tatsache, dass mit einem „Geheimnis“ Kenntnisse beschrieben werden, die nur von einem beschränkten Kreis von Wissenden geteilt und vor der Allgemeinheit verborgen werden, hat immer wieder zu der Annahme (durch die von diesen Kenntnissen Ausgeschlossenen) geführt, dass die Geschicke der Welt von konspirativen Kräften, von mächtigen Geheimbünden gelenkt werden. Nicht zuletzt die ebenso erfolgreich verfilmten Bestseller von Dan Brown („Illuminati“, „Sakrileg“) haben diesen Verschwörungstheorien neue Nahrung verliehen.
Helmut Reinalter, ehemals Professor für Geschichte der Neuzeit und Politische Philosophie an der Universität Innsbruck und nun Leiter eines privaten Forschungsinstituts für Ideengeschichte, beteiligt sich nicht an solchen Spekulationen, sondern gibt in dem schmalen Band der 100-Seiten-Reihe von Reclam einen kurzen Überblick über Geschichte, Verbreitung und Struktur von Geheimbünden.
Dazu unterscheidet er in seinem Vorwort zwischen Geheimnis, Geheimwissen und Geheimgesellschaft, wobei Geheimbünde nach äußerlichen und inhaltlichen Kriterien ebenso unterschieden werden wie in ihrer gesellschaftlichen Zuordnung und Einbindung. Nach einer kurzen Klärung der Begriffe „Okkultismus“ und „Verschwörungstheorien“ handelt der Autor verschiedene Geheimbünde nach ihrer territorialen Zugehörigkeit ab, angefangen bei berühmten europäischen Geheimbünden wie die Rosenkreuzer, Freimaurer, Illuminaten über nicht so vertraute Gruppierungen wie die Deutsche Union, die italienische Carboneria bis zu sozialistischen Geheimgesellschaften und Studentenverbindungen. Die Mafia, mithin als Synonym für „organisierte Kriminalität“ verwendet, nutzte die Geldwäsche, um sich international von der klassischen zur modernen Mafia weiterzuentwickeln und verschiedene Organisationen wie die Camorra, Cosa Nostra, ´Ndrangheta und Sacra Corona Unita herauszubilden.
Im letzten Fünftel des schmalen Bandes werden schließlich kurz afrikanische, asiatische und islamische Geheimbünde vorgestellt, bevor die Abhandlung mit einem Abriss über den Ku-Klux-Klan ausklingt.
„Den Geheimbünden wird von ihren Gegnern nicht nur Machtmissbrauch unterstellt, sondern gern auch das Ziel, die Weltregierung bzw. Weltherrschaft anzustreben. Der erwähnte Vorwurf des Machtmissbrauchs wird manchmal mit dem Geheimwissen und der Geheimhaltung begründet. Auch die exklusive Mitgliedschaft spielt dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dass Geheimbünde den Lauf der Geschichte entscheidend beeinflusst hätten, ist aber mit Sicherheit im Bereich der Legendenbildung anzusiedeln.“ (S. 98) 
Wer sich einen ersten Überblick über die Geschichte und Struktur von Geheimbünden verschaffen möchte, ist mit dem sehr nüchtern geschriebenen 100-Seiten-Bändchen von Helmut Reinalter gut bedient. Zwar sind die Abhandlungen zu den einzelnen Geheimorganisationen wirklich sehr kurz ausgefallen, wobei aber beispielsweise der Hermetic Order of the Golden Dawn oder der Ordo Templi Orientis gar keine Erwähnung finden, aber schließlich gibt es genügend weiterführende Literatur (so gibt es in der 100-Seiten-Reihe auch einen eigenen Band zur „Mafia“) zu den einzelnen Themen, von denen der Autor abschließend auch einige auflistet.

Anna Burns – „Milchmann“

Samstag, 22. Februar 2020

(Tropen, 456 S., HC)
Sie nennt sich selbst „Vielleicht-Freundin“, weil sich die Identität der 18-jährigen Protagonistin vor allem aus der unverbindlichen Quasi-Beziehung mit „Vielleicht-Freund“ herauskristallisiert. Vielleicht deshalb, weil sie sich aus verschiedenen Gründen definitiv nicht vorstellen kann, mit „Vielleicht-Freund“ zusammenzuleben. Aber dann ist da noch das Gerede über den ominösen, immerhin schon einundvierzigjährigen „Milchmann“, seit Schwager Eins womöglich das Gerücht in die Welt gesetzt hat, dass sie eine Affäre mit dem Mann unterhalte. Dabei hat sie den Annäherungsversuchen von „Milchmann“ nie nachgegeben, ist nie in sein Auto gestiegen, wenn er neben ihr hielt, während sie im Gehen in „Ivanhoe“ las.
Ma hat dagegen ganz konkrete Vorstellungen über den idealen Mann für ihre Tochter, die noch drei jüngere Schwestern hat sowie einen im Bürgerkrieg gefallenen Bruder und einen, der vor dem Bürgerkrieg geflohen ist. Die an sich unkomplizierte Beziehung mit „Vielleicht-Freund“, das gelegentliche Joggen mit Schwager Drei, das Besuchen eines Französisch-Kurses im Stadtzentrum sowie das Lesen im Gehen bieten „Vielleicht-Freundin“ ausgesuchte Fluchtmöglichkeiten aus der brutalen Realität, in der die paramilitärischen „Verweigerer“ auf die Soldaten des „Landes jenseits der See“ treffen. Dass sich „Vielleicht-Freundin“ mit einem „Verweigerer“, „Milchmann“, einlässt, macht sie verdächtig, und schon bemerkt sie beim Joggen mit Schwager Drei stets das Klicken von Kameras aus den Büschen heraus.
Aber sie zieht durch diese Gerüchte auch „Verweigerer“-Groupies an, Mädchen, die mit gutgemeinten Ratschlägen ihre Freundschaft zu erringen bemüht sind. Aber die erschreckende Realität lässt „Vielleicht-Freundin“ ihre eigene Geschichte schreiben …
„In einem Bezirk, der von Verdächtigungen, Mutmaßungen und Vagheit lebte, wo alles spiegelverkehrt war, war es außerdem unmöglich, eine Geschichte zu erzählen oder sie eben nicht zu erzählen und einfach den Mund zu halten, nichts konnte hier gesagt oder nicht gesagt werden, das nicht hinterher als einzig wahre Wahrheit verbreitet wurde.“ 
Die 1962 in Belfast geborene Anna Burns hat bereits in ihrem 2001 veröffentlichten Debütroman „No Bones“ ihre Erfahrungen mit dem nordirischen Bürgerkrieg verarbeitet. Nun wird ihr u.a. 2018 mit dem renommierten Man Booker Prize ausgezeichneter Roman „Milkman“ auch hierzulande veröffentlicht. Es bedarf einer gewissen Eingewöhnung in den fraglos wortgewaltigen, sprachgewandten Stil der Nordirin, die ihre Geschichte seltsam unverortet in Zeit und Raum als endlosen Monolog durch die namenlose Protagonistin erzählen lässt. Dennoch braucht es nur wenige Seiten, bis auch der letzte Leser begreift, dass Burns hier eine sehr persönliche Sichtweise auf den besagten Bürgerkrieg offenbart.
Es ist keine leichte Lektüre, die die Preisträgerin mit „Milchmann“ offeriert. Schließlich bietet der durchgängige Monolog so gut wie keine Handlung, dafür aber eine für ein 18-jähriges Mädchen sehr reife, vielschichtige Reflexion über die beängstigenden Ereignisse um sie herum. In einer bedrohlichen Atmosphäre, in der die Angst immer neue paranoide Züge annimmt, sieht sich die Ich-Erzählerin gezwungen, ihren eigenen Weg zu gehen, auch entgegen der gutgemeinten Ratschläge ihrer Mutter und der bösartigen Gerüchte über ihre nicht existierende Beziehung zum „Milchmann“. Indem sie sich einer konventionellen Dramaturgie verweigert und „Milchmann“ als Tagebuch-ähnliche Selbstreflexion anlegt, untergräbt sie nicht nur die Lesegewohnheiten ihres Publikums, sondern fordert auch dessen anhaltende Aufmerksamkeit heraus. Dass „Milchmann“ gerade zum „Brexit“ auch in Deutschland veröffentlicht wird, mag kein Zufall sein, lenkt der außergewöhnliche Roman den Blick über die Grenzen zementierter Meinungen hinaus und wartet bei aller Ernsthaftigkeit mit erfrischend schwarzem Humor auf.
Leseprobe Anna Burns - "Milchmann"