Jim Nisbet – „Der Krake auf meinem Kopf“

Mittwoch, 26. Oktober 2022

(Pulp Master, 320 S., Tb.) 
Obwohl der 1947 geborene und in San Francisco lebende Jim Nisbet Autor von immerhin dreizehn Romanen und mehreren Lyrik-Bänden ist, fristet er hierzulande noch ein Schattendasein, wäre wahrscheinlich noch immer ein unbeschriebenes Blatt, wenn sich Frank Novatzki mit seinem feinen Verlag Pulp Master nicht seiner angenommen hätte. Nach „Dunkler Gefährte“ und „Tödliche Injektion“ veröffentlichte der Berliner Verlag 2014 mit „Der Krake auf meinem Kopf“ einen dritten Roman des Noir-Autors. 
Obwohl ihm nach den aufreibenden Jahren während der Punk-Bewegung in San Francisco nur seine Gitarre und ein Tattoo mit einem riesigen Kraken auf dem Kopf geblieben sind, hält Curly Watkins an seinem Traum fest, als Musiker seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch mehr als drei Abende die Woche für 45 Dollar und freien Kaffee „Caffeine Machine“ ist von diesem Traum nicht hängen geblieben. Als er seinem alten Kumpel, den begnadeten Jazz-Drummer Ivy Pruitt, vorschlägt, eine Band zu gründen, muss er leider feststellen, dass die Heroin-Sucht Ivy voll im Griff hat. Dann wird er auch noch bei einer Drogen-Razzia eingesackt. 
Da Curly im Gegensatz zu seinem Kumpel über kein Strafregister verfügt, wird er wieder freigelassen, kümmert sich aber mit Lavinia, die einige Jahre mit Curly liiert war, bevor auch ihre Beziehung mit Ivy nach zwei Jahren in die Brüche ging, um die Beschaffung der Kaution. Für einen ca. einstündigen Job winken Curly acht- bis neunhundert Dollar. Alles, was er dafür tun muss, ist, mit einem Taxi zur Anza 4514 zu fahren, sich als Bruder eines Typen namens Stefan Stepnowski vorzustellen und nach dessen neuer Adresse zu fragen, um dann die 7500 Dollar einzutreiben, die Stepnowski Sal „The King“ Kramers Laden „World of Sound“ schuldet. 
Zwar bekommt Curly die neue Adresse, doch als er mit Lavinia dort eintrifft, werden sie in einen Schusswechsel verwickelt und stoßen auf Stepnowskis Leiche, die sie um einiges an Bargeld erleichtern. Als Lieutenant Garcia die Ermittlungen aufnimmt, sind Curly und Lavinia zwar aus dem Schneider, weil Stepnowski definitiv vor ihrem Auftauchen am Tatort erschossen wurde, dafür geraten sie in die Fänge des Serienkillers Torvald, der seinen beiden Opfern lustvoll die größten Qualen bereitet… 
„Die Kameras würden alles aufzeichnen. Später würde er nach dem Moment des Kontaktes den Moment der Reaktion als Zwischenbild einfügen, aufgenommen von der Kamera, die direkt das Auge filmte: das Warten, das Zurückschrecken weit vor der Zeit; die Erkenntnis; das Hervortreten im Angesicht der Gewissheit; die Flut des Schmerzes; die mit dem Verebben der Lebenskraft einsetzende Trübung; am Ende das Erlöschen, wie in Zeitlupe, dann das Durchbrennen der Sicherung, Kurzschluss und … Blackout.“ (S. 257) 
Oberflächlich betrachtet erzählt „Der Krake auf meinem Kopf“ die Geschichte dreier Junkies/Möchtegern-Musiker, die unvermittelt in die Gewalt eines sadistischen Serienkillers geraten, doch Nisbet macht schon durch seine ausgefeilte Sprache von Beginn an deutlich, dass Curly, Ivy und Lavinia weit mehr als nur gescheiterte Existenzen am Rande der Gesellschaft sind, die sich durch Drogendeals, unrentable Auftritte und kleinere Gaunereien über Wasser halten. Schon nach wenigen Seiten lässt Nisbet seinen Ich-Erzähler Curly aus Paul Valerys Gedicht „Der Friedhof am Meer“ einige Zeilen zitieren, später fallen auch die Namen von Kerouac und Bao Ninh
Doch so tiefgründig das unstete Trio auch ist, hängen sie doch in der Kloake des heruntergekommenen Musik- und Drogenszene fest, bringen sich in bester Noir-Tradition in größte Schwierigkeiten und scheinen in dieser Wüstenei auch noch auf bestialische Weise gewaltsam aus dem Leben zu scheiden. Mit seinem stilistischen Geschick zieht Nisbet sein Publikum unmittelbar in den Bann dieser fraglos gebildeten, vor allem auch witzigen Figuren. 
Sobald Torvald aber die Szenerie betritt, ändert sich der Ton. Dann kontrolliert nämlich der Killer sowohl die Erzählung als auch das Geschehen, und auch hier nimmt der Autor kein Blatt vor den Mund, kriecht in die derangierte Psyche des Soziopathen und beschreibt detailliert die von ihm verübten Gräueltaten. So ungewöhnlich schon der Titel „Der Krake auf meinem Kopf“ daherkommt, so kompromisslos, sozialkritisch und virtuos inszeniert Nisbet ein fast schon grotesk anmutendes Road Movie, das man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt. 

 

Jim Thompson – „Kein ganzer Mann“

Donnerstag, 20. Oktober 2022

(Diogenes, 282 S., Tb.) 
Jim Thompson gilt heute neben Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Cornell Woolrich zu den bekanntesten Vertretern des Noir-Genres, wurde zu seinen Lebzeiten aber eher geringschätzenderweise der Pulp-Literatur zugeordnet. Bevor er sich mit seinen beiden Drehbüchern zu den Kubrick-Filmen „Die Rechnung ging nicht auf“ (1956) und „Wege zum Ruhm“ (1957) für kurze Zeit im Glanz Hollywood sonnen konnte und lange bevor seine Romane mit den 1970er Jahren beginnend verfilmt werden sollten („Getaway“, „After Dark, My Sweet“, „Grifters“ u.a.), veröffentlichte er 1954 auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft den Roman „The Nothing Man“, der 1989 zunächst als „Der Garnix-Mann“ bei Ullstein, 1996 dann in der Neuübersetzung von Thomas Stegers als „Kein ganzer Mann“ als deutsche Übersetzung erschienen ist. 
Clinton Brown ist einer der von Herausgeber Austin Lovelace meistgeschätzten Redakteure beim Pacific City Courier. Da Brown im Gegensatz zu seinen Kollegen Dave Randall und Tom Judge über kein nennenswertes Privatleben verfügt, sitzt er meist in der Redaktion und tippt dort an seinem unfertigen Manuskript zur Gedichtsammlung „Gedichte zum Erbrechen“. 
Als Mr. Lovelace unangekündigten Besuch von Deborah Chasen bekommt, wird Brown damit beauftragt, sie etwas in der Stadt herumzuführen, um sie abends wieder in den Zug zu setzen. Brown gefällt der Dame so gut, dass sie zu gern eine Affäre mit ihm beginnen würde, doch weiß sie nicht, dass er im Krieg beim Betreten eines Minenfelds ausgerechnet sein bestes Stück einbüßen musste. Doch nicht nur Mrs. Chasen bringt Brown in Bedrängnis, auch die Ankunft seiner Frau Ellen drüben auf der Insel beunruhigt ihn. Er hatte sich nach seinem Unglück von ihr trennen wollen, worauf sie für drei Monate aus Pacific City verschwand, um jetzt wieder unangekündigt aufzutauchen. 
Einzig Polizeichef Lem Stukey scheint von ihrer Ankunft zu wissen. Als Brown betrunken mit dem Boot zur Insel fährt und sich mit ihr streitet, schlägt er ihr eine Flasche über den Kopf und steckt ihr Bett in Brand. Als Ellens Leiche mit einem Zettel in der Hand aufgefunden wird, auf dem der Vers eines Gedichts geschrieben steht, ist Brown für Stukey natürlich der Hauptverdächtige, doch der Reporter kann die Theorie des Cops schnell entkräften. Schließlich wird Tom Judge für den Mord an Ellen Brown verhaftet, dann wird auch Deborah Chasen tot aufgefunden. Und wieder scheint der Reporter seine Hände im Spiel gehabt zu haben… 
„Es ist schwierig, eine Geschichte an einem bestimmten Punkt anzuhalten und eine genaue Analyse seiner Gefühle vorzunehmen, zu erklären, warum sie so und nicht anders sind. Ich bin eher ein Anhänger des Entwicklungsansatzes, im Gegensatz zum Erklärungsansatz. Aus dem Stegreif heraus, ohne Zusammenhang, ist er nicht sonderlich hilfreich, aber langfristig funktioniert er ausnahmslos. Betrachtet man die Handlungen eines Menschen über einen längeren Zeitraum, treten die Motive deutlicher zutage.“ (S. 140)
 
Jim Thompson stellt seinen Ich-Erzähler Clinton Brown als Mann dar, der wie der Titel bereits andeutet, „kein ganzer Mann“ ist, durch den Krieg seiner Männlichkeit beraubt. Obwohl die Frauen in seinem Leben, und davon gibt es im Verlauf des Romans doch einige, stets beteuern, dass sie ihn auch ohne das „Eine“ lieben würden, hat sein Selbstbewusstsein natürlich schweren Schaden erlitten.  
Thompson beschreibt eindringlich, wie sich der Redakteur und Möchtegern-Dichter stattdessen in die Arbeit stürzt und sich einen Spaß daraus macht, seine Kollegen gegeneinander auszuspielen und vor allem vor dem Hintergrund der sogenannten „Spottlustmorde“ auf diabolische Weise in den Fokus der Ermittlungen des korrupten und unsicheren Polizeichefs Lem Stukey schubst. 
Unterhaltsam ist aber nicht nur das gemeine Spiel, das Brown mit seinen Mitmenschen spielt, sondern auch die allgemeine Atmosphäre der Verruchtheit und Verderbtheit in Pacific City. Fast scheint es, als hätten die Frauen ihr Schicksal durch ihr aufdringliches Verhalten herausgefordert, doch am Ende kann der dem Alkohol mehr als nur zugeneigte Protagonist nicht mal mit Sicherheit sagen, ob er die Frauen tatsächlich ermordet hat oder „nur“ die vorbereitenden Maßnahmen traf und ein anderer für ihren Tod verantwortlich gewesen ist. 
Thompson kreiert mit „Kein ganzer Mann“ eine typische Noir-Stimmung, mit einem Ich-Erzähler, der im Rückblick die Ereignisse zu rekapitulieren versucht und seine eigene Rolle dabei nicht genau zu definieren vermag, sehr wohl aber die niederen Triebe seiner Mitmenschen. Zwar präsentiert Thompson, der selbst schwer dem Alkohol zugetan war, schon früh einen Nervenzusammenbruch erlitt und später an den Folgen eines Schlaganfalls in verarmten Verhältnissen starb, auf der einen Seite einen klassischen Whodunit-Plot, doch erweist sich „Kein ganzer Mann“ vor allem als psychologische Studie eines nicht nur körperlich kastrierten Mannes und seiner schäbigen Umwelt. 

 

Dan Simmons – „Helix“

Dienstag, 18. Oktober 2022

(Heyne, 400 S., Tb.) 
Auch wenn sich Dan Simmons mit teils epischen Horror- und Science-Fictions-Romanen wie „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“ und den jeweils zweibändigen Sagen um „Hyperion“ und „Endymion“ einen Namen gemacht hat, fand er – ebenso wie sein weitaus prominenterer Kollege Stephen King – immer wieder mal die Zeit, Kurzgeschichten zu schreiben. Nach „Styx – Dreizehn dunkle Geschichten“ und „Lovedeath. Liebe und Tod“ präsentierte er mit „Worlds Enough & Time“ im Jahre 2002 eine dritte Sammlung, diesmal mit längeren Erzählungen, die überwiegend der Science Fiction zuzuordnen sind, 2004 bei Festa in der wortwörtlichen Übersetzung als „Welten und Zeit genug“ veröffentlicht wurden und vier Jahre später als „Helix“ bei Heyne als Neuauflage erschienen ist. 
Allerdings erreichen die fünf Erzählungen selten die Qualität von Simmons‘ Romanen. 
„Auf der Suche nach Kelly Dahl“ ist erstmals in der von Steve Rasnic Tem herausgegebenen Hardcover-Anthologie „High Fantastic“ mit Beiträgen von Autoren phantastischer Literatur aus Colorado abgedruckt worden und wirkt wie eine klassische „Twilight Zone“-Episode. Als Roland Jakes eines Morgens im Camp aufwacht, muss er feststellen, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Der Highway nach Boulder war ebenso verschwunden wie das National Center for Atmospheric Research und die Hochhäuser von Denver. Dafür erstreckte sich nach Osten, Süden und Norden ein Binnenmeer so weit das Auge reichte. Diese Erfahrungen hängen mit dem Wiedersehen einer früheren Schülerin namens Kelly Dahl zusammen. Eigentlich wollte der Vietnam-Veteran und ehemaliger Lehrer irgendwo am Peak to Peak Highway oder im Staatsforst im Left Hand Canyon in einem der verlassenen Minenschäfte seinem Leben so ein Ende setzen, dass es wie ein Unfall aussah. Doch ausgerechnet Kelly Dahl, die er nur für kurze Zeit unterrichtete, an die er sich allerdings besonders gut erinnert, rettet ihn und fordert ihren alten Lehrer zu einem tödlichen Spiel heraus… 
Mit „Die verlorenen Kinder der Helix“ kehrt Simmons in die Welt von „Hyperion“ zurück, nachdem der Plan, ein Drehbuch für eine „Star Trek: Voyager“-Episode zu schreiben, nicht verwirklicht worden ist. Als sich das Spinschiff Helix mit über 680.000 Menschen im Kälteschlaf einem Doppelsternsystem nähert, entscheiden die fünf KIs unter Führung von Dem Lia, neun der Menschen an Bord aufzuwecken, um sich mit ihnen über einen eingegangenen Hilferuf von Ousters zu beraten. Während die Menschen eigentlich den menschlichen und postmenschlichen Aenea-Raum für immer verlassen wollten, um mit ihrer Amoiete-Spectrum-Helix-Kultur einen eigenen, von aeneanischer Einmischung unbeeinflussten Weg zu gehen, versuchten die Ousters einen anderen evolutionären Weg zu gehen und sich dem Weltraum anzupassen. Mit einer Sonde untersucht eine kleine Delegation der Spectrum-Helix und der Ousters die Möglichkeit, mit dem Hawkingantrieb zum Roten Riesen zu springen und zurückzukehren, bevor der Zerstörer mit seinem Werk beginnen kann. 
„Mit Kanakaredes auf dem K2“ ist sicherlich die beste Geschichte in dieser Sammlung und wirkt wie eine Sci-Fi-Variante von Simmons‘ historischem Epos „Der Berg“, nur dass hier drei Bergsteiger von einem wanzenähnlichen Alien begleitet werden. 
„Ich warf einen Blick zu Kanakaredes. Wer konnte schon den Gesichtsausdruck einer Wanze deuten? Dieser riesige Mund mit seinen Auswüchsen und Höckern, der zwei Drittel rings um den Kopf bis fast zu dem höckerigen Kamm verlief und vorn einen schnabelartigen Vorsprung hatte, schien immer zu lächeln. War das Lächeln jetzt etwa ein wenig breiter geworden? Schwer zu sagen, und ich war nicht in der Stimmung, ihn zu fragen.“ (S. 288) 
„Das Ende der Schwerkraft“ thematisiert schließlich die Reise des amerikanischen Pulitzer-Preisträgers Norman Roth nach Moskau, um für das New York Times Magazine, das einen neuen Blick auf das Raumfahrtprogramm der Russen gewinnen möchte. Doch der Trip erweist sich für den herzkranken Skeptiker zu einer gefährlichen Mission. 
Im Gegensatz zu den epischen Science-Fiction-Romanen, in denen Dan Simmons genügend Raum zur Verfügung hat, neue Welten vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen, reichen die Beschränkungen selbst längerer Kurzgeschichten nicht aus, um sich in den fremden Welten, die hier einerseits im „Hyperion“-Reich angesiedelt sind, andererseits auf das nachfolgende „Ilium“ verweisen, sofort heimisch zu fühlen. Das gelingt dem preisgekrönten Autor in den Erzählungen, die auf der uns bekannten Erde angesiedelt sind, weitaus besser, wo die Science-Ficition-Elemente einfach den Horizont der Möglichkeiten, zu denen sich menschliches Leben und Denken entwickeln könnte, erweitern. 
Dass Heyne die Neuauflage allerdings als „das große Zukunftsepos“, als „Geschichte von Ereignissen, die die Welt für immer verändern werden“, anpreist, spottet jeder Beschreibung, denn von einem zusammenhängenden Epos kann hier wirklich nicht die Rede sein. Interessanter als die einzelnen Geschichten selbst sind stellenweise die ausführlichen Einführungen des Autors zu ihrer Entstehung und Entwicklung.  

Robert Bloch – „Feuerengel“

Donnerstag, 13. Oktober 2022

(Diogenes, 201 S., Tb.) 
Nachdem Robert Blochs frühen Werke aus den 1930er Jahren noch sehr stark von Autoren wie H. P. Lovecraft, August Derleth und Clark Ashton Smith geprägt waren, begann er vor allem Anfang der 1950er Jahre damit, psychologische Krimis zu schreiben. Durch die Vorlage für Alfred Hitchcocks „Psycho“ (1960) wurde Robert Bloch auch international bekannt. Zu den Thrillern, die kurz nach „Psycho“ entstanden sind, zählt auch der 1961 veröffentlichte Roman „Firebug“, der 1969 zunächst als „Mit Feuer spielt man nicht“ im Scherz-Verlag erschienen ist und 1994 in einer Neuausgabe unter dem Titel „Feuerengel“ bei Diogenes wiederveröffentlicht wurde. 
Philip Dempster kommt mit seinem Roman über Sekten gerade nicht weiter, als sein Kumpel Ed Cronin vom „Globe“ ihm das Angebot unterbreitet, für die Sonntagsbeilage eine mehrteilige Serie über die Sekten in der Stadt zu schreiben. Da er die zwölfhundert Dollar gut gebrauchen kann, nimmt Dempster den Auftrag an und bekommt am nächsten Morgen ein Notizbuch mit einer Namenliste – Die Weiße Bruderschaft, Kirche des Goldenen Atoms, Tempel des Neuen Königreichs, Zentrum der Weisheit, Haus der Wahrheit, Tempel der Lodernden Flamme… 
Dempster will seine Nachforschungen mit dem Besuch einer Versammlung der Weißen Bruderschaft von Amos Peabody beginnen, doch stattdessen versackt er in der Kneipe und lernt dabei Diana Rideaux kennen. Allerdings ist Dempster so schnell betrunken, dass er sich von seiner neuen Bekanntschaft nach Hause fahren lassen muss. Als er aus seinem benommenen Zustand aufwacht, steht er neben einem Feuermelder und sieht hinter sich das Bethaus der Weißen Bruderschaft in Flammen ausgehen. Zum Glück verleiht ihm Diana Rideaux ein Alibi, aber auch der nächste Besuch einer Sekte endet in einer Feuerbrunst. Nun ist es die Kirche des Goldenen Atoms mitsamt ihrem charismatischen Führer, Professor Ricardi, der in seinem Bett verbrennt. Daraufhin sucht ihn Ricardis Freundin Agatha Loodens auf, die Dempster auf die Zusammenhänge zwischen Peabody, Ricardi und den Rechtsberater Weatherbee bringt. Die Besuche bei seinem Psychiater, die Gespräche mit dem Kommissar und anderen Beteiligten, die Suche nach einem Mann, der ihn zu verfolgen scheint – all das lässt den Schriftsteller langsam an seinem Verstand zweifeln… 
„Man treibe mehrere Menschen zusammen, mache das Licht aus, entzünde ein Feuer, lasse jemanden mit tiefer Stimme Klimbim reden, und schon hat man die Leute fest in der Hand. Wie aufgeklärt sie auch sein mögen, das Rezept ist narrensicher. Schön, aber warum ist das so? Weil Dunkelheit und Feuer am Ende wirklich Magie verbreiten? Ist der atavistische Zug in uns noch so stark?“ (S. 159) 
Robert Bloch hat mit „Feuerengel“ einen straff inszenierten, klassisch aufgebauten Whodunit-Krimi geschrieben, der vor allem durch den Ich-Erzähler Philip Dempster getragen wird. Der Schriftsteller entpuppt sich allerdings von Beginn an als nicht besonders zuverlässig, macht er doch aus seiner Trinkerei keinen Hehl, auch nicht aus seiner Angst vor Feuer. Dass er es außerdem mit gleich zwei Femmes fatale zu tun bekommt, verschleiert die Ereignisse zunächst eher, als dass sie Licht in das allzu oft vom Feuer erleuchtete Dunkel bringen.  
Bloch seziert dabei nicht nur genüsslich die unlauteren Praktiken der Sekten, sondern bietet auch Einblicke in die Psyche eines Pyromanen. Spannung und Humor gehen dabei oft Hand in Hand und sorgen für einen kurzweiligen, leicht zu lesenden Thrill, der schon vor „Psycho“ bei Bloch zum Markenzeichen geworden ist. 

 

Michael Mann (mit Meg Gardiner) – „Heat 2“

Montag, 10. Oktober 2022

(HarperCollins, 688 S., Tb.) 
Mit Filmen wie „Manhunter – Roter Drache“, „Der letzte Mohikaner“, „Ali“, „Insider“ und „Collateral“ avancierte Michael Mann zu einem der Top-Regisseure in Hollywood, der mit Stars wie Willl Smith, Daniel Day-Lewis, Tom Cruise, Russell Crowe, Al Pacino und Robert De Niro zusammenarbeiten durfte. Vor allem das 1995 entstandene Heist Movie „Heat“, das die erste Zusammenarbeit der beiden Hollywood-Schwergewichte Pacino und De Niro markierte, ist längst in die Film-Geschichte eingegangen. Mehr als 25 Jahre später präsentiert Mann allerdings kein filmisches Sequel, sondern einen Roman, der unter Mitwirkung von Thriller-Autorin Meg Gardiner („Gottesdienst“, „Schmerzlos“, „Todesmut“) entstanden ist und einen weiten Bogen von den Anfängen der Bande um Neil McCauley bis ins Jahr 2000 spannt, also die Ereignisse vor und nach der in „Heat“ erzählten Geschichte schildert. 
Nach dem Banküberfall auf die Far East National Bank in Los Angeles am 7. September 1995 haben Vincent Hanna und seine Detectives vom Raub- und Morddezernat des LAPD nicht nur mit Neil McCauley den Kopf der Bande getötet, sondern auch die meisten seiner Mitstreiter. Einzig Chris Shiherlis konnte fliehen und mit Unterstützung des befreundeten Hehlers Nate von seinem Unterschlupf in Koreatown nach Paraguay fliehen, wo er sich als Chris Bergman eine neue Identität im Sicherheitsgewerbe aufbauen konnte. Obwohl er verspricht, zu seiner Frau Charlene und ihrem gemeinsamen Sohn Dominick zurückzukehren, weiß er, dass Hanna keine Ruhe geben wird, bis er auch ihn dingfest gemacht hat. 
Chris hatte Charlene sieben Jahre zuvor in Las Vegas kennengelernt, wo er seiner Leidenschaft fürs Spielen nachging und sie als Edelprostituierte arbeitete. Doch seine Spielsucht sorgte immer wieder für Ärger in der nachfolgenden Ehe. In Chicago organisierte Neil derweil einen großen Coup, wobei er sich die nötigen Fahrzeuge und Materialien von dem Autowerkstattbetreiber Aaron Grimes besorgen ließ, dabei aber die Aufmerksamkeit des brutalen Gangsters Otis Wardell erregte. Als McCauleys Bande die Schließfächer einer Privatbank knackte, erbeuteten sie nicht nur eine Menge Bargeld, sondern auch brisante Informationen, die der Gang einen gewaltigen Coup jenseits der mexikanischen Grenze bescherte, der Neil zwar mit Elisa zusammenbrachte, aber in einem Fiasko endete, bei dem Elisa in Neils Armen verblutete. 
Im Jahr 2000 führen Geschäfte Chris wieder nach Los Angeles zurück, wo er mit Nate Kontakt aufnimmt und sich seine Wege wieder mit denen von Vincent Hanna kreuzen… 
„Er weiß, dass er von außen betrachtet, zu den zurückgezogen lebenden Heimatlosen gehört, die sich hier auf den Straßen herumtreiben und vor was auch immer sie auf der Flucht sein mögen verstecken. Aber jetzt, wo er hier steht, spürt er nichts vom Nachlassen des Adrenalins. Er ist ganz da, zentriert und kristallklar. Ein professioneller, krimineller Clark Kent, der den Berg noch nicht gefunden hat, den er nicht erklimmen könnte, oder die Schwierigkeiten, mit denen er nicht fertigwerden würde. Er weiß, was er weiß, und er weiß auch, dass er alles lernen kann, was er nicht weiß.“ (S. 292) 
Michael Mann ist nicht der erste Autoren-Filme, der nicht nur die Drehbücher zu den meisten seiner Filme schreibt, sondern auch sein Talent für das Schreiben von Romanen entdeckt. Da steht er in der Tradition von Elia Kazan und Roger Vadim. Mit der Fortsetzung seines Erfolgsfilms „Heat“ in Romanform hat sich Mann ein echtes Mammutprojekt vorgenommen, das das Finale des Films in einem kurzen Dialog zusammenfasst, um dann mit Chris‘ Genesung und Flucht nach Südamerika fortgesetzt wird, wo er sich nicht nur in eine Affäre mit Ana stürzt, sondern auch in der Hierarchie eines taiwanesischen Kartells aufsteigt. 
Mann und seine Co-Autorin wechseln nicht ständig zwischen den Jahren 1988, 1996 und 2000 hin und her, sondern bleiben immer wieder länger bei ihren wichtigsten Figuren, bei Vincent Hanna auf der Seite des Gesetzes, der vor allem damit beschäftigt ist, den durchgeknallten Einbrecher, Vergewaltiger und Mörder Otis Wardell zu schnappen, und bei dem Gangster Chris Shiherlis, der als Einziger das Massaker von 1995 überlebt hat und sich in Südamerika eine neue Existenz aufgebaut hat. 
Vor allem die Vorbereitung und Durchführung der Coups werden ausführlich beschrieben, fangen aber nicht die Atmosphäre ein, die Mann in „Heat“ durch die herausragenden Darsteller, die blau unterkühlten Bilder und den hervorragenden Soundtrack kreiert hat. 
Die Ereignisse in „Heat 2“ werden nämlich recht prosaisch geschildert, die knappen Sätze erinnern eher an Lee Child und James Patterson als an großartige Romanciers. In dem Epos, das zwölf Jahre und den gesamten amerikanischen Kontinent von Nord bis Süd abdeckt, wird vor allem der in „Heat“ eher stiefmütterlich behandelte Chris zur eigentlichen Hauptfigur, doch wirkt sein Werdegang nicht immer überzeugend dargestellt, die Rückkehr nach Los Angeles am wenigsten. 
Was „Heat 2“ an Action und knackigen Dialogen bietet, lässt es auf der anderen Seite an psychologischer Tiefe und Glaubwürdigkeit vermissen. Als Kombination von Prequel und Sequel ist „Heat 2“ trotz einiger Längen ein lesenswerter Thriller, doch möchte man sich wünschen, dass sich Michael Mann wieder auf das Filmen konzentriert. Das kann er definitiv besser. 

Jim Nisbet – „Tödliche Injektion“

Mittwoch, 5. Oktober 2022

(Pulp Master, 234 S., Tb.) 
Der am 28. September 2022 im Alter von 75 Jahren verstorbene Jim Nisbet hat seit den 1970er Jahren Romane, Lyrik, Theaterstücke, Artikel, Essays und Shortstorys in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien sowie ein Sachbuch über Bau und Design retro-futuristischer Möbel geschrieben ist hierzulande nur mit den wenigen bislang bei Pulp Master veröffentlichten Noir-Krimis bekannt geworden, dabei gehören seine Krimis zu den kompromisslosesten Meisterwerken, die das Genre zu bieten hat, wie sein 1987 veröffentlichtes Zweitwerk „Lethal Injection“ eindrucksvoll beweist. 
Der Schwarze Bobby Mencken verlebt in der Todeszelle seine letzten Stunden auf Erden. Nachdem er seine Henkersmahlzeit zu sich genommen hat, verschafft ihm Dr. Franklin Royce, der Gefängnisarzt von Huntsville, Texas, mit einer Dosis Morphium verbotenerweise etwas Gelassenheit, doch bevor er die tödliche Giftspritze verabreicht bekommt, schafft er es noch, den sadistischen Wärter Pit Bull Peters zu töten, der bereits fünf Gefangene auf dem Gewissen hatte, aber für keine dieser Taten zur Rechenschaft gezogen worden war. Dagegen beteuert Mencken mit seinen letzten Worten auf Erden, dass er nicht die Frau in dem Laden mit fünf Schüssen ins Gesicht getötet habe, wofür er zum Tode verurteilt worden ist. „Colleen, ich … hab es nicht getan …“, flüstert er noch und küsst den Arzt auf die Lippen. In einer Bar, wo er sich ein paar Whiskeys gönnt, erfährt Royce durch das Fernsehen noch ein paar Hintergründe. Demnach sei Mencken bei der Flucht vom Tatort festgenommen, seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe sichergestellt worden. Zeugen oder echte Beweise gab es allerdings nicht. 
Royce ist neugierig. Da seine hysterische Frau ohnehin nichts mehr mit ihm zu haben will, macht sich der Arzt auf den Weg nach Dallas, um in den Elendsvierteln dort mehr über Mencken und den Mord herauszufinden. 
„Die Fahrt hat sich hingezogen, über acht Stunden lang. In dieser Zeit hat er sich an den Gedanken von Menckens Unschuld angefreundet, dass er im Begriff stand, einen Vorstoß zu wagen, um herauszufinden, weshalb Mencken den äußersten Weg für etwas gegangen war, was er vielleicht nicht getan hatte. Was er machen würde, wenn oder falls er eine Antwort fände, darüber hatte Royce noch nicht nachgedacht.“ (S. 110) 
Dabei macht er die Bekanntschaft von Menckens Freundin Colleen Valdez, die ihm gleich den Kopf verdreht, und ihrem Mitbewohner Eddie Lamark, die beide ebenfalls am Tatort gewesen waren. Während er mit den beiden abhängt, kommt er der wahren Geschichte auf die Spur… 
„Tödliche Injektion“ weist gerade mal einen Umfang von gut 230 Seiten auf, entwickelt in der Kürze aber eine enorme Spannung, wobei die Hinrichtung von Mencken bereits 60 Seiten einnimmt, die erst einmal ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Todesstrafe darstellt, bevor die Erzählperspektive von dem Todeskandidaten zu dem Teilzeit-Gefängnisarzt wechselt. Dabei verströmt die Geschichte zunächst den typischen Noir-Touch. 
Der zum Tode verurteilte Mencken kann seine Unschuld nicht mehr beweisen, aber vielleicht derjenige, der ihn mit der Giftspritze ins Jenseits befördert hat. Dabei ist Royce auch ein gebrochener Mann, gefangen in einer scheußlichen Ehe und beruflich längst nicht mehr auf der Höhe. Als er sich auf die Suche nach Menckens Freundin Colleen macht und sie schließlich findet, taucht Royce gänzlich in die schäbige Welt der Drogen, der Beschaffungskriminalität und von heißem Sex ein, dass es ihm die Sinne völlig vernebelt. 
Meisterhaft beschreibt Nisbet nicht nur die bedrohlich-prickelnde Atmosphäre und die unerwartete ménage à trois mit Colleen und Eddie, sondern kommt allmählich hinter den wahren Ablauf der Ereignisse, die am Ende zu Menckens Verurteilung geführt haben. Im Finale wartet Nisbet mit einer furiosen Sequenz auf, die die seltsame Odyssee zu einem konsequenten Ende führt. Denn am Ende hat Royce zwar das Verbrechen aufgeklärt, aber seine eigene Selbstzerstörung kann er nicht mehr aufhalten. Mit seiner schnörkellosen Sprache und einem feinen Gespür für die Figuren und die Geschichte entführt Nisbet seine Leser in eine zynische Welt, in der es kein Glück und keine Gerechtigkeit zu geben scheint. Das ist Noir im allerbesten Sinne. 

 

Ian McEwan – „Lektionen“

Montag, 3. Oktober 2022

(Diogenes, 720 S., HC) 
Seit seiner 1975 veröffentlichten Geschichtensammlung „First Love, Last Rites“, die 1982 in der Übersetzung von Harry Rowohlt im deutschen Sprachraum als „Erste Liebe, letzte Riten“ erschienen ist, hat sich der Brite Ian McEwan als einer der bekanntesten europäischen Schriftsteller etabliert, dessen Werke regelmäßig auch verfilmt werden. 2017 gelangten mit „Kindeswohl“, „Am Strand“ und „Ein Kind zur Zeit“ sogar gleich drei McEwan-Adaptionen in die Kinos. Auch in seinem neuen Werk, der auf über 700 Seiten episch angelegten Familiengeschichte „Lektionen“, berührt McEwan wieder Themen, die sich auf die eine oder andere Weise in jedermanns Leben wiederfinden, vor allem die Frage, was den individuellen Menschen ausmacht. 
Für Roland Baines bricht eine Welt zusammen, als er im Frühjahr 1986 mit Mitte dreißig von seiner Frau Alissa verlassen wird und im Zuge ihres spurlosen Verschwindens sogar von der Polizei mit dem Verdacht konfrontiert wird, ein Verbrechen begangen zu haben. Die Postkarten, die Alissa ihm und ihrem gemeinsamen Sohn Lawrence regelmäßig mit dem gleichen Wortlaut aus Dover, Paris, Straßburg und München geschickt hat, werden mit Handschriftenproben verglichen. Monate nach ihrem Verschwinden, das sie nur mit einer kurzen Notiz kommentiert hat („Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst.“), rekapituliert Baines, wie es dazu kommen konnte, und erzählt seine Geschichte. 
In Libyen als Sohn eines Armeeoffiziers aufgewachsen, kommt im Spätsommer 1959 mit seinen Eltern nach England, wird Zeuge eines Motorradunfalls mit Todesopfern und wird er im Alter von elf Jahren in ein Internat gesteckt. Ihm ist noch nicht klar, dass er die nächsten sieben Jahre dort verbringen und anschließend erwachsen sein wird. Was ihn allerdings am meisten prägt, sind die Klavierstunden bei der Mitte zwanzigjährigen Miriam Cornell, die den dann vierzehnjährigen Jungen verführt und sogar zu seinem sechzehnten Geburtstag in Schottland zu heiraten beabsichtigt. Roland kann sich gerade noch rechtzeitig aus dieser Abhängigkeit und Umklammerung befreien, treibt dann aber recht ziellos durchs Leben. Seine anfänglich so vielversprechende Karriere am Klavier verfolgt er nicht weiter. Stattdessen hält er sich als Tennislehrer, Teilzeit-Journalist und Bar-Pianist über Wasser, bis er beim Deutschunterricht am Goethe-Institut Alissa Eberhardt kennen- und lieben lernt. Doch die angehende Schriftstellerin fühlt sich in der Ehe eingeengt und hat erst dann den ersehnten Erfolg, als sie nach Deutschland zurückkehrt, wo sie sogar als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Roland heiratet schließlich seine alte Freundin Daphne, nachdem er zuvor fast wahllos von einer Affäre zur nächsten gesprungen war. 
Als Daphne viel zu früh an Krebs stirbt, macht er sich daran, sowohl Alissa aufzusuchen als auch seine frühere Klavierlehrerin, die sich für den begangenen Missbrauch nun der Strafverfolgung ausgesetzt sieht… 
„Alissas Verschwinden hatte eine Schneise in die Vergangenheit geöffnet. Fast, als wären Bäume gefällt worden für einen besseren Blick. In seltenen Momenten wie diesem sah er, als scharf umrissenen Lichtpunkt, den Ursprung all dessen, was ihm zusetzte, und all denen, die ihm nahekamen. Die Klavierlehrerin, die ihn in jener ersten Nacht heimgesucht hatte, spukte ihm oft im Kopf herum.“ (S. 310) 
Ian McEwans „Lektionen“ ist weit mehr als die Geschichte eines Lebens. In seinem umfangreichsten Roman holt der versierte Schriftsteller weit aus, lässt die Lebensgeschichte seiner Eltern, seiner beiden Halbgeschwister Henry und Susan und anderer mit gesellschafts- und geopolitischen Ereignissen wie die Widerstandsbewegung Weiße Rose, die Suez- und Kuba-Krise, die nukleare Bedrohung nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl, der Falkland-Krieg, Margaret Thatchers Regierungszeit, der Aufschwung der Labour-Party, Gorbatschow und der Fall der Berliner Mauer bis hin zum Klimawandel, Brexit und Umgang mit der Corona-Pandemie. 
Die Einbettung in den historischen Kontext hätte McEwan, der einige biografische Verweise wie das Alter, die Kindheit in Libyen und die Halbgeschwister in seinen Roman hat einfließen lassen, allerdings etwas kürzen können, denn die tatsächlich entscheidenden Momente in Roland Baines‘ Leben spielen sich auf rein persönlicher Ebene ab. 
Wenn der Autor die Beziehungen und Konflikte mit der Klavierlehrerin und Alissa beschreibt, hat „Lektionen“ seine stärksten Momente, denn hier fährt alles auf, was zwischenmenschliche Beziehungen ausmacht, mit allen Höhen und Tiefen, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und Konflikten. Dabei rückt die Rücksichtslosigkeit von Künstlern, die im Dienste ihrer Kunst alles andere vernachlässigen, ebenso in den Vordergrund wie die Frage nach Lust und Schuld in dem Missbrauchsfall, mit dem Roland seine Klavierlehrerin nach Jahrzehnten konfrontiert. 
Es sind keine „Lektionen“ mit ausgestrecktem Zeigefinger, McEwan bietet keine Antworten auf die komplexen moralischen Fragen, die sich Roland Baines am Wendepunkt seines Lebens zu stellen beginnt und denen er bis ins hohe Alter folgt, sondern präsentiert schon eine altersmilde Gelassenheit gegenüber den geschichtlichen Ereignissen, die man nicht beeinflussen kann, gegenüber den Menschen, die man geliebt und die einen verletzt haben. 
Am Ende ist „Lektionen“ eine reflektierte Lektion über die Unwägbarkeiten des Lebens schlechthin. 

Bill Clinton & James Patterson – „Die Tochter des Präsidenten“

Sonntag, 25. September 2022

(HarperCollins, 560 S., Tb.) 
In „The President Is Missing“, der ersten Zusammenarbeit zwischen Thriller-Bestseller-Autor James Patterson und dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, hatte der Demokrat Jonathan Duncan als Präsident der Vereinigten Staaten nicht nur gegen ein Komplott von Mitgliedern des Königshauses von Saudi-Arabien und der russische Regierung zu kämpfen, die die Supermacht USA zu schwächen versuchten, sondern auch gegen ein drohendes Amtsenthebungsverfahren und seine innerparteiliche Konkurrentin, Vizepräsidentin Katherine Brandt. 
Mit ihrem zweiten gemeinsamen Thriller präsentieren Clinton & Patterson keine Fortsetzung, sondern ein ganz neues Set-up an Figuren, die sich diesmal keiner Bedrohung durch Cyber-Terroristen ausgesetzt sehen, sondern der Entführung der Präsidententochter. Geblieben ist allerdings ein unkritischer Patriotismus und die Idealisierung der Figur des Präsidenten als Retter der Welt. 
Mit dem erneut fehlgeschlagenen Versuch, den weltweit gesuchten Terroristen Asim al-Aschids im lybischen Nafusa-Gebirge auszuschalten, bei dem ein Navy SEAL sowie al-Aschids Frau und drei Töchter getötet wurden, hat Vize-Präsidentin Pamela Barnes die Gunst der Stunde genutzt und ihren Wahlkampf gegen den amtierenden Präsidenten Matthew Keating gewonnen. Während sich Keating in der Abgeschiedenheit am Lake Marie in New Hampshire den Freuden des Landlebens hingibt, hat seine Frau Samantha, Professorin der Boston University, ihre Arbeit als Archäologin wieder aufgenommen und geht in Hitchcock, Maine, mit ihren Studenten Spuren von baskischen Fischern nach. 
Doch das Leben der ehemaligen Präsidentenfamilie wird auf den Kopf gestellt, als Keatings 19-jährige Tochter Mel mit ihrem Freund Tim Kenyon auf eine Bergwandertour zum Mount Rollins geht und entführt wird. Zwar hat Keatings als Ex-Präsident keine weitreichenden Befugnisse mehr, doch als Präsidentin Barnes nicht auf die Forderungen von Asim al-Aschid eingeht, nimmt Keating als ehemaliger SEAL das Schicksal selbst in die Hand, stellt mit seinem Personenschützer David Stahl ein Team zusammen und macht sich auf den Weg nach Libyen, wo sich der Terrorist nach Auswertung der Videoaufnahmen, in denen al-Aschid mit Keatings Tochter zu sehen gewesen ist, offenbar aufhält. Doch die Operation wird durch die Einmischung auch eines ehrgeizigen chinesischen Geheimdienstlers und selbst US-amerikanischer Befehlshaber empfindlich gestört. Vor allem macht sich Keatings Frau Vorwürfe, diese bedrohliche Situation nicht früher verhindert zu haben, bekam sie doch während des Präsidentschaftswahlkampfes brisantes Material über Richard Barnes, den Ehemann und Stabschef der Herausforderin Pamela Barnes zugespielt. 
„… es ist alles meine Schuld, Matt. Ich hatte den Schlüssel zu deiner Wiederwahl in der Hand – den USB-Stick mit der Aufzeichnung von Richard Barnes‘ Perversionen -, aber ich habe ihn nicht benutzt. Ich konnte ihn nicht benutzen. Und ich wollte ihn nicht benutzen.“ (S. 192) 
James Patterson sagt selbst über sich: „Ich bin schnell. Ich bin ein Ja-Nein-Typ, ich hasse Vielleichts.“ Seine Thriller sind leicht und schnell zu lesende Geschichten, in denen es so gut wie keine Grauschattierungen gibt, nur Helden auf der einen und die Bösen auf der anderen Seite. Für nachdenkliche Zwischentöne ist auch in „Die Tochter des Präsidenten“ kein Raum, obwohl das Buch für Patterson-Verhältnisse mit über 500 verhältnismäßig eng bedruckten Seiten ungewöhnlich dick ausgefallen ist. 
Dass der ehemalige US-Präsident Bill Clinton großen Anteil an der Ausweitung des Plots gehabt haben soll, ist schwer vorstellbar. Dafür wirkt zum einen die Sprache zu einheitlich, zum anderen ist die Selbstheroisierung des Ex-Präsidenten, den das Autoren-„Duo“ als Ich-Erzähler etabliert hat, dermaßen überzogen, dass Clinton schon an einem Gott-Komplex leiden müsste, sollte er die Figur des Ex-Präsidenten auch nur halbwegs nach realen Vorbildern geschaffen haben. Der Plot bietet souverän inszenierte Spannung, die allerdings in jeder Hinsicht wie am Reißbrett konstruiert wirkt. 
Während die Terroristen und der chinesische Geheimdienstler Jiang Lijun als Abziehbilder des Schreckens dargestellt werden, wirken die Beschreibungen der SEALs wie Texte aus einer Werbebroschüre für die Spezialeinheiten des amerikanischen Militärs. Dazu gesellen sich intrigante, machtbesessene Politiker, selbstaufopferungsvolle Personenschützer und clevere junge Frauen, in denen mehr steckt, als man ihnen zutrauen würde, aber am Ende ist es natürlich der Präsident selbst, der zum großen Helden avanciert. 
Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, hätten auch die für Patterson sonst üblichen 350 Seiten gereicht. So bietet „Die Tochter des Präsidenten“ extrem leichte und temporeiche, aber überraschungsarme Thriller-Kost, die zudem leider von klischeehaften Figuren getragen wird. Es scheint fast so, dass Bill Clintons Name nur auf dem Cover platziert worden ist, da der vorangegangene Thriller „Die Frau des Präsidenten“ mit dem völlig unbekannten Co-Autor Brendan DuBois längst nicht an den Erfolg von „The President Is Missing“ anknüpfen konnte.  

Daniel Silva – (Gabriel Allon: 21) „Die Cellistin“

Mittwoch, 21. September 2022

(HarperCollins, 448 S., Pb.) 
Vor über 20 Jahren veröffentlichte der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Silva mit „Der Auftraggeber“ seinen ersten Thriller um den israelischen Kunstrestaurator und Geheimagenten Gabriel Allon. Mittlerweile ist Silva bei Band 21 seiner Spionage-Thriller-Reihe angelangt, in der Allon nicht nur in die Jahre gekommen ist, sondern längst zum Geheimdienstchef aufgestiegen ist. Für „Die Cellistin“ verarbeitet Silva nicht nur den Sturm auf das Capitol und den damit verbundenen Angriff auf die Demokratie an sich, sondern nimmt auch die Methoden russischer Oligarchen unter die Lupe, wie sie im Zuge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine aufgedeckt wurden. 
Einst war Wiktor Orlov durch den Import von Computern und anderen Westwaren erst zu Wohlstand gekommen, dann durch den Kauf von Russlands größtem Stahlkonzern und dem sibirischen Ölriesen Rusoil zum reichsten Mann in Russland geworden. Doch durch sein Milliardenvermögen hat sich Orlov allerdings auch viele Feinde gemacht und mindestens drei Attentate überlebt. 
Nun kämpft er seit einigen Jahren im Londoner Exil gegen die Kleptokraten, die mittlerweile die Kontrolle über den Kreml an sich gerissen haben, vor allem über die Zeitungen wie der „Financial Times“ und der kremlkritischen Wochenzeitschrift „Moskowskaja Gaseta“. Als er eines Abends vergiftet in seiner Wohnung aufgefunden wird, gerät zunächst die 42-jährige Journalistin Nina Antonowa ins Visier der geheimdienstlichen Ermittlungen. Aus ihrem Zürcher Exil heraus hatte sie bereits zahlreiche Fälle von Korruption im inneren Kreis des russischen Präsidenten aufgedeckt und Orlov am Abend seines Todes noch einen Stapel mit Dokumenten überreicht. 
Als Gabriel Allon, Chef des israelischen Geheimdienstes, vom Tod seines Freundes erfährt, initiiert er eine waghalsige Operation, die vor allem dazu dient, den schwerreichen Arkadi Akimow auszuschalten, der über die im Schweizer Handelsregister eingetragene Haydn Group SA vor allem politische Kriegsführung, Desinformation, Subversion sowie die Ermordung von Führern der Demokratiebewegung betreibt. Als Köder dient ihm die Deutsche Isabel Brenner, die nicht nur eine hervorragende Cellistin ist, sondern auch eine leitende Angestellte der RhineBank-Filiale in Zürich, die als „russischer Waschsalon“ vor allem schmutziges russisches Geld für Investitionen in westlichen Luxus-Immobilien verwendet. 
„Gabriel brauchte eine wirkliche Attraktion, eine internationale Berühmtheit, deren Anwesenheit die Schweizer Großfinanz in Scharen anlocken würde. Und er brauchte einen Financier, der es übernahm, den Abend auf seine Kosten auszurichten – einen Tugendbold, der für sein Engagement für Themen vom Klimawandel bis hin zum Schuldenerlass für die Dritte Welt bekannt war. Einen Mann von der Sorte, die Arkadi liebend gern mit schmutzigem russischem Geld korrumpieren würde.“ (S. 183) 
Als es Isabel gelingt, sogar zu einer Silvesterparty eingeladen zu werden, zu der auch der russische Präsident eingeladen wird, hat sie Akimov schon längst dazu gebracht, seine Milliarden in Projekte zu investieren, von denen er nie etwas haben wird, doch durch einen Verräter wird ihre Rolle in dem Plan durchschaut… 
Auch wenn sich Daniel Silva mit seinem Protagonisten Gabriel Allon in den Gefilden von James Bond und Jason Bourne bewegt, sind seine Romane weit weniger actionreich ausgefallen, sondern spielen sich eher raffiniert im Hintergrund ab, so wie man es von Geheimdienstarbeit eigentlich auch erwartet. Silva gelingt dabei das Kunststück, selbst komplexe Sachverhalte wie Geldwäsche und dubiose Investitionen so in die Geschichte einzubetten, dass es die Zusammenhänge erklärt, ohne die Dramaturgie zu vernachlässigen. 
Mit „Die Cellistin“ bewegt sich Silva zudem nah am aktuellen Zeitgeschehen. Die Einschränkungen durch die Corona-Epidemie werden hier ebenso thematisiert wie die bedenklichen antidemokratischen Bewegungen in den USA im Zuge der Amtseinführung von Präsident Joe Biden im Januar 2021 und die raffinierten Methoden, mit denen russische Oligarchen ihr durch Korruption angeeignetes Geld im Westen „reinwaschen“ lassen. 
Vor diesem Hintergrund entwickelt Silva einen wirklich flotten Plot mit interessanten Schauplätzen und Figuren. Auch wenn sich die Geschichte letztlich doch recht vorhersehbar entwickelt und der große Überraschungseffekt ausbleibt, bietet „Die Cellistin“ packende Thriller-Unterhaltung von einem Routinier des Genres. 

Stephen King – „Fairy Tale“

Sonntag, 18. September 2022

(Heyne, 880 S. , HC) 
Zwar ist Stephen King vor allem durch seine – auch (teilweise mehrfach) erfolgreich verfilmten -Horror-Romane wie „Es“, „Carrie“, „Needful Things – In einer kleinen Stadt“ und „Friedhof der Kuscheltiere“ berühmt geworden, doch hin und wieder verschlägt es den „King of Horror“, der am 21. September 2022 seinen 75. Geburtstag feiert, auch ins benachbarte Fantasy-Genre. Seinen beeindruckendsten Beitrag lieferte der US-amerikanische Bestseller-Autor hier mit seiner acht Bände umfassenden Saga um den „Dunklen Turm“ ab, doch bereits in den 1980er Jahren probierte er sich in dem heute nahezu vergessenen Roman „Die Augen des Drachen“ in märchenhaften Gefilden aus. Seinem fast 900-seitigen Epos „Fairy Tale“ könnte ein ähnliches Schicksal blühen, kommt hier doch Kings immer wieder kritisierte Weitschweifigkeit besonders deutlich zum Tragen und macht aus einem anfangs einfühlsam geschriebenen Entwicklungsroman ein uninspiriertes Märchen, dem es vor allem an Spannung und Atmosphäre fehlt. 
Charlie Reade war gerade mal sieben Jahre alt, als seine Mutter auf dem Heimweg von einer Besorgung zum Essen auf der Sycamore Street Bridge von einem Auto erfasst und getötet wurde. Seinem Vater hat der Verlust so zugesetzt, dass er seinen Kummer in Alkohol ertränkte und seinen Job als Schadensregulierer bei einer Versicherung verlor. Dank eines Kollegen ging Charlies Vater jedoch regelmäßig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker, wurde wieder von seiner alten Firma eingestellt und hat sich mittlerweile selbstständig gemacht. 
Mit siebzehn Jahren steht Charlie nun an der Schwelle zum Erwachsensein und hat gute Chancen auf ein Sport-Stipendium, als er eines Tages am unheimlichen „Psycho-Haus“, das von dem einsiedlerischen Mr. Bowditch bewohnt wird, ein Wimmern wahrnimmt. Charlie kommt gerade rechtzeitig, um den Notruf zu alarmieren, nachdem Mr. Bowditch von der Leiter gefallen war und sich ein Bein gebrochen hatte. Der Teenager besucht daraufhin nicht nur regelmäßig Mr. Bowditch im Krankenhaus, sondern kümmert sich auch um Radar, die in die Jahre gekommene deutsche Schäferhündin des mürrischen alten Mannes. Auch als Mr. Bowditch wieder nach Hause kommt, betreut Charlie sowohl den Hausherrn als auch die Schäferhündin, wobei ihm der abgeschlossene Schuppen auf dem Grundstück besonders zu faszinieren beginnt. 
Wie sich herausstellt, verfügt Mr. Bowditch über einen Eimer voller Goldkügelchen in seinem Tresor, mit dem er mehr als nur die Krankenhausrechnung bezahlen kann. Als Mr. Bowditch an einem Herzinfarkt stirbt, erbt Charlie dessen ganzes Vermögen. Als Radar immer älter und gebrechlicher wird, findet Charlie im Schuppen den Zugang zu einer anderen Welt, die auch einst Mr. Bowditch betreten hat, um sein Leben zu verlängern. Nun nimmt Charlie eine abenteuerliche Reise ins Land Empis, das schon bessere Zeiten erlebt hat. In der Stadt Lilimar wird Charlie bald in einen Kerker gesperrt und zum Kämpfen gezwungen. Für viele seiner Mitstreiter wird Charlie als ein Prinz betrachtet, der das alte Königreich retten wird… 
„Die Monarchen waren nicht ausgerottet und die Mitglieder des Hauses Galien auch nicht, zumindest nicht alle. Sie waren von der Macht, die jetzt in Elden hauste, verflucht worden – es musste dieselbe Macht sein, die auch die nah an der Mauer erbauten Vorstadthäuser in Schutt und Asche gelegt hatte -, aber sie waren am Leben. Das verriet ich Freed allerdings nicht. Womöglich wäre das für uns beide gefährlich gewesen.“ (S. 622) 
So wie Stephen Kings Saga vom „Dunklen Turm“ maßgeblich von Robert Brownings Gedicht „Childe Roland to the Dark Tower Came“ inspiriert wurde, verbeugt sich der Autor in seinem neuen Werk deutlich vor Autoren wie Edgar Rice Burroughs, Robert E. Howard, Ray Bradbury und Howard Phillips Lovecraft, aber auch Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ und Elemente aus Grimms Märchen und der erfolgreich verfilmten „Die Tribute von Panem“-Trilogie. finden sich in „Fairy Tale“. 
Allerdings bekommt King die unterschiedlichen Einflüsse nicht zu einer eigenen unterhaltsamen Geschichte zusammen. Es wirkt sogar so, als wären zwei verschiedene Autoren am Werk gewesen. Während das erste Drittel eindeutig Stephen King in Bestform präsentiert, der auf gewohnt einfühlsame Weise die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der durch den frühen Tod seiner Mutter und den Alkoholismus seines Vaters seiner Kindheit beraubt geworden ist und durch die Freundschaft zu einem eigenbrödlerischen alten Mann Zugang zur „Anderwelt“ bekommt, setzt er in den nachfolgenden zwei Dritteln eher stümperhaft die Märchentradition fort, die gefährliche Reise eines Jünglings auf dem Weg zu einer höheren Berufung zu schildern. King fehlt hier nicht nur die sprachliche Finesse, um bedrohliche oder faszinierende magische Welten erstehen zu lassen, wie es sowohl Ray Bradbury („Das Böse kommt auf leisen Sohlen“) als auch Howard Phillips Lovecraft („Schatten über Innsmouth“, „Der Flüsterer im Dunkeln“, „Berge des Wahnsinns“) vermochten, sondern vor allem auch an einer packenden Geschichte. 
King lässt seine Leserschaft ebenso wie seinen jungen Protagonisten, der eigentlich nur einen Weg finden will, Radar zu einem jüngeren Ich zu verhelfen, über Hunderte von Seiten im Unklaren darüber, wohin die Reise denn gehen soll. Natürlich sind Kämpfe, Mutproben und Gefahren zu bestehen, aber die Anderwelt wird ebenso wie die darin lebenden Figuren viel zu oberflächlich und lieblos beschrieben. So richtig eintauchen kann man als Leser in diesen uninspirierten Mischmasch vertrauter Fantasy-Elemente nicht. Dazu bleiben die Figuren zu farblos, der Plot plätschert unaufgeregt vor sich hin. Mindestens 300 Seiten hätte sich King hier sparen können. Und wenn sich Paul Greengrass („Neues aus der Welt“, „Die Bourne Verschwörung“) an die Verfilmung macht, wird er den Plot auch gnadenlos straffen müssen, um aus „Fairy Tale“ einen unterhaltsamen Film zu machen. Für King kann es dagegen nur heißen, wieder zurück zu alten Stärken im Horror-Genre zu finden. 

Robert Bloch – „Nacht im Kopf“

Mittwoch, 14. September 2022

(Diogenes, 189 S,., Tb.) 
Mit seinem 1959 veröffentlichten Roman „Psycho“ wurde Robert Bloch vor allem durch die ein Jahr später erfolgte Verfilmung durch Spannungs-Meister Alfred Hitchcock weltberühmt. Psychisch angeschlagene Charaktere standen allerdings auch in späteren Werken des Erfolgsautors, der im Laufe seiner Karriere auch die Drehbücher zu Horrorfilmen wie „Der Puppenmörder“, „Der Foltergarten des Dr. Diabolo“, „Totentanz der Vampire“ und „Die Toten sterben nicht“ verfasste, immer wieder im Mittelpunkt – so auch in seinem 1972 veröffentlichten Roman „Night-World“, der zunächst 1975 unter dem Titel „Wahnsinn mit Methode“ im Scherz-Verlag erschien und 1986 als „Nacht im Kopf“ in neuer Übersetzung bei Diogenes wiederveröffentlicht wurde. 
Karen Raymond bespricht als Werbetexterin in der renommierten Agentur Sutherland in Los Angeles gerade ihren aktuellen Auftrag mit dem Cheftexter Mr. Haskane, als sie einen Anruf aus Topanga Canyon erhält, dass ihr Mann Bruce vielleicht aus der psychiatrischen Anstalt entlassen wird. Nachdem ihr der behandelnde Arzt Dr. Grisworld geraten hatte, ihren Mann während der Behandlung nicht zu besuchen, sind mehr als sechs Monate vergangen. 
Nun soll die Reaktion ihres Mannes auf ihren Besuch darüber entscheiden, ob er bereit ist, das Luxus-Sanatorium zu verlassen. Vor ihrer Abfahrt sucht sie noch Rita, die Schwester ihres Mannes, auf, die sich wenig angetan von Karens Plan zeigt. Als Karen am Sanatorium eintrifft, ist sie allerdings nicht auf den Anblick des ermordeten Dr. Grisworld vorbereitet. Von der benachrichtigten Polizei erfährt Karen, dass Grisworld nicht das einzige Todesopfer in der Klinik ist. 
Außer ihm wurden neben der an ihrem Pult erwürgten Schwester auch ein Pfleger und eine ältere Patienten tot aufgefunden. Die übrigen fünf Patienten sind allerdings verschwunden. Offensichtlich ermordet wenigstens einer der Geflüchteten weitere Angestellte und Angehörige der Patienten, sodass auch Karen in Lebensgefahr schwebt… 
„Und wenn es doch Bruce gewesen war, der zu ihr wollte – zu ihr wollte, um sie zu töten? Nein, das würde Bruce nicht tun. Oder doch? Karen sah sich selbst mit weitaufgerissenen Augen im Spiegel. Würde er? Das war die Kernfrage – die Frage, der sie die ganze Zeit ausgewichen war. Aber sie musste sich ihr stellen – hier und jetzt. Sie musste der Sache ins Auge sehen, so wie sie sich im blanken Glas des Spiegels selbst ins Auge sah. Nach allem, was geschehen war, und dem, was sie über Bruce wusste – glaubte sie, dass er schuldig war?“ (S. 68) 
Robert Bloch hat sich seit den 1950er Jahren mit Romanen wie „Die Psycho-Falle“, „Werkzeug des Teufels“, „Die Saat des Bösen“, „Mit Feuer spielt man nicht“ und „Amok“ als versierter Krimi- und Horror-Autor etabliert, der es versteht, zunächst konventionell erscheinende Krimi-Plots mit schaurigen Elementen und einer deftigen Prise schwarzen Humors zu würzen. Da macht „Nacht im Kopf“ keine Ausnahme. 
Der Whodunit-Plot bezieht seine Spannung sowohl aus der Frage nach der Identität des Killers als auch aus der Frage nach dem geistigen Zustand von Karens Mann Bruce bezieht. Bis zur Klärung beider Fragen streut Bloch so einige interessante Todesfälle und Wendungen ein, die „Nacht im Kopf“ zu einem kurzweiligen Krimi-Vergnügen machen, wobei Bloch am Rande auch den Zustand der Gesellschaft kritisch beleuchtet. Interessant wird die Geschichte vor allem dadurch, dass Bloch immer wieder die Erzählperspektive zwischen Karen Raymond und dem unbekannten Täter wechselt, so dass Bloch dem Leser erhellende Einblicke in die Psyche des Killers gewährt. 

 

Les Edgerton – „Der Vergewaltiger“

Dienstag, 13. September 2022

(Pulp Master, 158 S., Tb.) 
Der 1943 geborene US-Amerikaner Les Edgerton weiß in etwa, wovon er schreibt, wenn er den Ich-Erzähler seines 2013 erschienenen Kurzromans „The Rapist“ seinen Alltag im Gefängnis reflektiert. Edgerton hat nämlich selbst zwei Jahre im berüchtigten Pendleton Reformatory wegen Einbruchs, bewaffneten Raubüberfalls und versuchter Hehlerei abgesessen. Dass er mit seinen verstörenden, von Autoren wie Charles Willeford, Jim Thompson und Charles Bukowski inspirierten Romanen in Deutschland zuvor keine verlegerische Heimat gefunden hat, mag nicht überraschen, wenn man „Der Vergewaltiger“ liest. Frank Nowatzki hat seinen Verlag nicht von ungefähr Pulp Master genannt, schließlich finden bei ihm auch Bücher und Autoren Berücksichtigung, die im herkömmlichen Literaturbetrieb gern als „Schund“ bezeichnet werden. 
Truman Ferris Pinter sitzt im Todestrakt eines Gefängnis und hat nur noch Stunden zu leben. Er wurde wegen der Vergewaltigung und des Mordes der aufreizenden jungen Dame namens Greta Carlisle für schuldig gesprochen, die er von der Bar kannte, in die er regelmäßig eingekehrt ist. Ein Tag vor dem Verbrechen, so berichtet Pinter, habe er sie im naheliegenden Wald dabei beobachtet, wie sie es genüsslich mit drei jungen Männern trieb. Am Tag darauf ging Pinter angeln. Da ihm sein Vater ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hat, war er nie gezwungen, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Stattdessen verbrachte er seine Zeit vor allem damit, sparsam mit seinem Erbe umzugehen, viel zu lesen, ein wenig zu schreiben, angeln zu gehen und ab und zu ein Bierchen in Joe’s Tavern zu trinken. An dem Tag des Verbrechens hatte Pinter an einem sonnigen Julimorgen bereits zwei Stunden geangelt, als ihm Greta über den Weg läuft. Dass sie ihn damit aufzieht, dass er „alte Kackfresse“ genannt wird, lässt Pinter alle gute Manieren vergessen. 
Er gibt in der Gerichtsverhandlung später freimütig zu, sie vergewaltigt zu haben, doch umgebracht habe er sie nicht. Stattdessen sei sie auf der Flucht vor ihm ausgerutscht, mit dem Kopf auf einen Stein geschlagen und schließlich im Fluss ertrunken. Freilich habe Pinter keine Anstalten unternommen, sie zu retten. Pinter berichtet von seinem eintönigen, aber geregelten Alltag im Gefängnis, von „Mr. Timex“, der ihn stündlich über die ihm noch verbleibenden Stunden informiert, entwickelt aber schon einen ungewöhnlichen Fluchtplan. Schon als Kind hatte er zu „fliegen“ gelernt, und die Zeit im Gefängnis nutzt er, die alte Technik wieder zu trainieren, um im entscheidenden Moment seinen Körper zu verlassen und unbemerkt zu entschweben… 
„Ich fühle mich stark, selbstsicher. Ich bin dem perfekten Flug so nah, dass ich das Erreichen meines Zieles förmlich fühlen kann. Ich konzentriere mich, gleite hinein in den Teil meines Verstandes, der dieses Phänomen ermöglicht. Meine Umgebung verblasst, tritt in den Hintergrund. Ich reinige mein Bewusstsein, reguliere den Atem. Mein Körper macht sich davon und ich…“ (S. 95) 
Bereits mit den ersten beiden Sätzen outet sich der Ich-Erzähler als Lügner, Frevler, Wahrheitsschänder und Heuchler. Seiner Erzählung ist also nur sehr eingeschränkt Glauben zu schenken. Das trifft natürlich in erster Linie auf das verübte Verbrechen zu. Da wir nur Pinters Version der Geschichte präsentiert bekommen, lässt sich nicht verifizieren, ob sein Opfer tatsächlich durch einen Unfall umgekommen ist. Doch Edgerton und sein durch und durch unsympathischer Protagonist lassen dem Leser keinen Raum für Perspektivwechsel. Stattdessen zieht Pinter sein Publikum mit seinem philosophischen Geschwätz in den Bann, das auf den ungeschönten Bericht der Vergewaltigung folgt. Der Todeskandidat macht keinen Hehl aus seiner Ablehnung gegen die christliche Religion und dumme Menschen, die ihr Leben vergeuden. Pinter schafft sich schließlich seine eigene Realität, seinen eigenen Mechanismus, die Eintönigkeit des Gefängnisalltags zu verarbeiten und im Geist einen Ausweg aus der kurz bevorstehenden Ausübung des Todesurteils. 
Besonders erquicklich ist das nicht zu lesen. Ekkehard Knörer geht in seinem informativen Nachwort vor allem auf die Nähe zu John William Dunne ein, von dem ein Zitat dem Buch vorangestellt ist, der sich in seinem Werk auch mit präkognitiven Traumerlebnissen beschäftigt hat. 
„Der Vergewaltiger“ liest sich wie ein verschrobenes Manifest eines höchst gebildeten, aber auch exzentrischen Menschenfeinds, der seine eigene Methode gefunden hat, sich seine eigene Wirklichkeit zu bauen. Das ist sicher verstörend, aber nicht unbedingt große Literatur. 

 

Philipp Djian – „Pas de deux“

Sonntag, 11. September 2022

(Diogenes, 436 S., HC) 
Seit seinem 1982 veröffentlichten Roman „Blau wie die Hölle“ hat der französische Schriftsteller Philippe Djian eine rasante Karriere hingelegt, die in dem auch erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) einen ersten Höhepunkt erreichte. 1991 folgte schließlich „Lent dehors“, hierzulande als „Pas de deux“ veröffentlicht, und präsentierte etwas nachdenklichere Töne. Das Thema Sex steht in diesem Roman allerdings auch so stark im Mittelpunkt, dass die Story selbst fast in den Hintergrund rückt. 
Einst galt Henri-John als talentierter Pianist mit vielversprechender Karriere, doch nach einem aufregenden Leben, zu dem das Touren mit dem renommierten Sinn-Fein-Ballett durch die ganze Welt und aufregende Affären zählten, hat er seine Freundin aus Jugendtagen, die mittlerweile erfolgreiche Schriftstellerin Edith, geheiratet, mit ihr die beiden Töchter Eléonore und Evelyne großgezogen und verdient seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer in Teilzeit an der Schule Saint-Vincent. Sein in ruhigen Bahnen verlaufendes Leben kommt erst wieder in Schwung, als Edith für zwei Wochen zu einer Lesereise nach Japan aufbricht. In dieser Zeit lässt sich Henri-John auf eine Affäre mit seiner jungen Kollegin Hélène, deren Avancen er bisher problemlos widerstehen konnte. 
Als Edith jedoch aus Japan mit ersten Teilen ihres neuen Romanmanuskripts zurückkehrt und Henri-John um eine ehrliche Einschätzung bittet, kommt es zum Affront. Henri-John ist über Ediths Anbiederung an die Literaturschickeria so entsetzt, dass er ihr seine Meinung nicht vorenthalten mag. Als Edith auch noch hinter seine Affäre kommt und ihn vor die Tür setzt, ist Henri-John gezwungen, über seine Prioritäten im Leben neu mit sich zu verhandeln. Er nistet sich im Haus seines Freundes Oli am Meer ein und beginnt mit dem Herumtreiber Finn, die Treppe zum Meer neu zu bauen. In der Zeit erinnert sich Henri-John - nicht zuletzt durch das Lesen von Ediths Tagebuch – an wilden Zeiten seiner Jugend zurück und findet langsam heraus, dass er Edith zurückgewinnen will… 
„Meine Probleme waren nicht aus der Welt, aber dank ihm hatte ich die schlimmsten Klippen umschifft. Ich war wieder zu Kräften gekommen, und mein Verstand war klar. Ich hatte aufgehört, über mein Schicksal zu jammern. Die Wunde war nicht verheilt, aber ich glaubte inzwischen, mit ihr leben zu können, weil ich sie akzeptiertem weil sie mir vertraut war, weil Finn, sagen wir, eine Art hatte, seinen Hammer zu schwingen, die mich mit der Welt versöhnte.“ (S. 259) 
Der von US-amerikanischen Autoren wie Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger beeinflusste Philippe Djian hat nie verhehlt, dass es ihm vor allem um Stil und Sprache geht, und so bilden die Figuren und die Geschichte nur den Rahmen, um mit der Sprache zu jonglieren. Darin hat sich der französische Schriftsteller bereits in seinen frühen Roman als wahrer Fabulierkünstler erwiesen. Mit seinem Roman „Pas de deux“ (der deutsche Titel bezieht sich auf einen Teil des „Nussknacker“-Balletts von Peter Tschaikowsky) erzählt Djian die komplexe Lebensgeschichte eines Musikers, in dessen Erinnerungen vor allem die ersten sexuellen Erfahrungen mit einer reifen Frau wie Romana und nachfolgenden Eroberungen einen breiten Raum einnehmen. Djian ist ein Schriftsteller, der pornographische Inhalte zu einem literarischen Erlebnis macht. 
Seitenlang vermag er die Lust an weiblichen Reizen und an erotischen Handlungen kunstvoll zu beschreiben, ohne dass es einem die Schamesröte ins Gesicht treibt. Doch darüber hinaus erweist sich „Pas de deux“ als feinsinniger Entwicklungsroman. Djian lässt seinen Protagonisten in den Tagebüchern seiner Frau und Briefen seines Freundes Oli schwelgen, führt so immer wieder eine andere Perspektive in den Plot ein, mit der sich Henri-John gezwungenermaßen auseinandersetzen muss, will er seine Frau wieder zurückgewinnen. Dabei entwickelt die Geschichte, die zwischen den ausgehenden 1950er Jahren und der heutigen Zeit pendelt, einen faszinierenden Sog, gelingt es Djian doch vorzüglich, seine Figur mit wahrer emotionaler Tiefe auszustatten und so reifen zu lassen. 
 

Stephen Crane – „Das Monster und andere Geschichten“

Dienstag, 6. September 2022

(Pendragon, 272 S., HC) 
Stephen Crane (1871-1900) war leider kein langes Leben vergönnt, doch da er bereits im Kindesalter zu schreiben begann, hat er der Nachwelt ein umfangreiches literarisches Vermächtnis hinterlassen. H.G. Wells bezeichnete ihn als „besten Schriftsteller unserer Generation“, Paul Auster widmete Crane mit „In Flammen“ erst kürzlich eine eigene Biografie. 
Hierzulande ist von ihm vor allem der Bürgerkriegsroman „Die rote Tapferkeitsmedaille“ aus dem Jahre 1895 bekannt, der 1951 von John Huston erstmals verfilmt wurde und seither zwei Remakes erfuhr. Der Pendragon-Verlag hat es sich dankenswerter Weise zur Aufgabe gemacht, die großen Lücken seiner Werke in deutscher Übersetzung zu füllen. Nach der Story-Sammlung „Geschichten eines New Yorker Künstlers“ folgt nun mit „Das Monster und andere Geschichten“ eine weitere Kollektion meist beachtenswerter Erzählungen, die vor allem den naturalistischen Stil des Schriftstellers veranschaulichen. 
Im Mittelpunkt der Sammlung steht der Kurzroman „Das Monster“, der ähnlich wie andere Geschichten in der fiktiven, Port Jervis nachempfundenen Stadt Whilomville spielt und in dem Stephen Cranes junges Alter Ego Jimmy Trescott die Hauptrolle spielt. Als im Haus seines Vaters, Dr. Trescott, ein Feuer ausbricht, ist es der schwarze Stallknecht Henry Johnson, der dem Jungen das Leben rettet, allerdings selbst so schwer verletzt wird, dass er in der Nachbarschaft bereits für tot erklärt wird. Zwar überlebt Johnson, doch mit seinem furchtbar entstellten Gesicht wird er als „Monster“ betrachtet und ausgegrenzt. Selbst der herzensgute Doktor wird von dieser Ausgrenzung betroffen, als seine Patienten andere Ärzte aufsuchen, die weit weniger qualifiziert sind. 
Jimmy Trescott taucht auch in „Redner in Nöten“ auf, einer Geschichte, die dem jungen Protagonisten vor Augen führt, dass er für immer unfähig sein würde, öffentliche Vorträge zu halten, in „Der kleine Engel“ und „Das kleine Biest“
Wie schon in seinem ersten Roman „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ beschreibt Crane vor allem das Leben einfacher Menschen. Bereits als Journalist in New York berichtete er über das Leben in den Slums der Stadt. Der amerikanische Bürgerkrieg, den Crane so eindrücklich in seinem berühmtesten Werk „Die rote Tapferkeitsmedaille“ thematisierte, spielt auch in „Das kleine Regiment“ eine Rolle, wo die beiden Brüder Dan und Billy Dempster ihre ganz eigene Fehde austragen. 
„Hinsichtlich ihrer Position in der Rangordnung hatten sie gelernt, solch verwirrende Situationen zu akzeptieren, und waren mittlerweile Träger eines einfachen, aber völlig unverrückbaren Glaubens, dass irgendjemand dieses Durcheinander durchschaute. Auch wenn man ihnen versichert hätte, dass die Armee ein kopfloses Monstrum sei, hätten sie bloß genickt, mit dem den Veteranen eigenen Zynismus. Als Soldaten hatten sie damit nichts zu tun.“ (S. 207) 
Dass Crane aber auch über einen feinsinnigen Humor verfügte, bewies er mit Geschichten wie „Zwölf Uhr“, in denen eine Kuckucksuhr für Aufsehen sorgt, und „Ein Hirngespinst in Rot und Weiß“, wo ein Mann die Mutter seiner Kinder tötet und den Kindern anschließend geschickt eintrichtert, einen ganz anders aussehenden Mann als Täter zu identifizieren. 
Berücksichtigt man das junge Alter, in dem Crane all diese Erzählungen verfasst hat, zeugen gerade die längeren Geschichten wie „Das Monster“ und „Das kleine Regiment“ von einer persönlichen wie schriftstellerischen Reife, die umso bemerkenswerter erscheint, da die Geschichten oft aus der kindlichen Perspektive des Jungen Jimmy Trescott erzählt werden und so auch immer ein Staunen über die Abläufe in der Welt zum Ausdruck bringen. 
Darüber hinaus sind die Beschreibungen des Lebens ganz gewöhnlicher Menschen im ausgehenden 19. Jahrhundert so lebendig und detailliert, dass es nicht verwundert, wenn die Strahlkraft von Cranes Schaffen bis in die heutige Zeit anhält und renommierte Autoren wie Paul Auster animiert, sich intensiver mit Leben und Werk des hierzulande noch viel zu unbekannten Schriftstellers auseinanderzusetzen. In seinem Nachwort gibt der Übersetzer Lucien Deprijck noch wertvolle Einblicke in Cranes Biografie und ordnet beispielsweise die Verwendung von Begriffen wie „Neger“ und „Nigger“ in den historischen Kontext ein. 

 

Dan Simmons – „Das Schlangenhaupt“

Freitag, 2. September 2022

(Goldmann, 478 S., Tb.) 
Dan Simmons hat sich seit Mitte der 1980er Jahre mit preisgekrönten Horror-Romane („Göttin des Todes“, „Kraft des Bösen“, „Sommer der Nacht“) und Science-Fiction-Epen („Hyperion“, „Die Feuer von Eden“) weltweit einen Namen gemacht. Ende der 1990er Jahre begann der US-amerikanische Bestseller-Autor, sich auch in anderen Genres zu versuchen. Neben der hierzulande kaum bekannten Thriller-Reihe um den Privatdetektiv Joe Kurtz erschien nach Simmons‘ sehr gutem Thriller-Debüt „Fiesta in Havanna“ mit „Das Schlangenhaupt“ ein weiterer gelungener Roman, in dem der Autor vor allem seinen Sinn für ungewöhnliche Settings unter Beweis stellte. 
Dr. Dar(win) Minor ist ein Spezialist für die Rekonstruktion von Unfallursachen in Kalifornien und wird von seinem Chef Lawrence Steward vor allem immer dann zu Unfällen hinzugezogen, bei denen sich die Polizei vor Ort überhaupt keinen Reim auf den Unfallhergang machen kann bzw. wenn der Verdacht besteht, dass Unfälle vorgetäuscht wurden, um Versicherungen zu betrügen. Dar befindet sich nach einer Unfallbegutachtung mit seinem Acura NSX wieder auf dem Heimweg außerhalb von San Diego, als er auf dem Highway 15 von einem Mercedes E 340 mit abgedunkelten Scheiben bedrängt wird, bevor das Feuer auf ihn eröffnet wird. 
Dar gelingt es nicht nur, die Schüsse unbeschadet zu überstehen, sondern mit seinem Rennwagen die Verfolgung aufzunehmen und den Mercedes mit seinen beiden Insassen in eine Schlucht stürzen zu lassen. Die Identifizierung der beiden Leichen ergibt, dass es sich um russische Auftragskiller handelte, die offenbar in Verbindung mit organisiert angelegten Versicherungsbetrügen stehen, in denen eine Sonderheit aus FBI, LAPD, San Diego Police Department, California Highway Patrol und anderen Organisationen ermittelt. Um herauszufinden, wer für das Attentat auf Dar verantwortlich ist, soll Dar Teil der Sondereinheit werden, außerdem wird er persönlich von Sydney Olson, der attraktiven Chefermittlerin des Generalstaatsanwalts, bewacht. 
Während sich Dar und Syd allmählich näherkommen, entdecken sie eine Verbindung der Killer zum prominenten Anwalt Dallas Trace… 
„Dar wusste, dass unter allen Soldaten dieser Erde allein Sniper darauf trainiert waren, Gegner zu belauern. Marines und Army-Infanteristen mochten in kleinen Einheiten andere kleine Einheiten oder sogar einen einzelnen Feind belauern, aber allein der Sniper war dafür ausgebildet, mit List und Tücke aus dem Hinterhalt auf weite Entfernung einen bestimmten Menschen zu töten. Und ganz oben auf der Liste eines Scharfschützen stand stets sein gefährlichster Gegner: der feindliche Scharfschütze.“ (S. 427) 
Dan Simmons ist mit „Darwin’s Blade“, so der Originaltitel, ein vor allem thematisch interessanter Thriller mit einem charismatischen Protagonisten gelungen. Wie Simmons immer wieder die ungewöhnlichsten Unfälle beschreibt, die der promovierte Physiker zu bearbeiten hat, zaubert dem Leser immer wieder ein Schmunzeln ins Gesicht, doch übertreibt es der Autor gelegentlich mit den wissenschaftlichen Hintergründen und Berechnungen mit mathematischen Formeln, was dem Lesefluss gelegentlich abträglich ist. 
Das trifft auch auf die übertriebenen und völlig unglaubwürdigen Action-Sequenzen zu. Nachdem Simmons sich so viel Mühe gegeben hat, realistische Szenarien und gut charakterisierte Figuren zu etablieren, driftet er mit seinen wilden Verfolgungsjagden in die Gefilde von James-Bond- und Jason-Bourne-Thrillern ab. 
Doch von diesen Schwächen abgesehen bietet „Das Schlangenhaupt“ Hochspannung pur, wobei der ausführliche Rückblick auf Dars Ausbildung zum Scharfschützen die Tiefe seiner Figur noch unterstreicht. Besonders interessant ausgestaltet ist das nicht immer einfache Verhältnis zwischen dem eigensinnigen Physiker (mit seiner Leidenschaft für schnelle Autos und Segelflieger) und seinem weiblichen „Bodyguard“. 
Wie gut die beiden am Ende miteinander harmonieren, wird bei dem faszinierenden Showdown deutlich, der an Annauds Drama „Duell – Enemy at the Gates“ erinnert und in bester Western-Manier ausgestaltet ist.